Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben

Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014

2. „Wellen des globalen Wandels“ als Herausforderung für Global Governance

Globalisierung hat viele Dimensionen, darunter eine kulturelle, soziale, technologische und politische. Allerdings kann die ökonomische Globalisierung – die zunehmende Verflechtung der Märkte über geografische Regionen hinaus – als primäre Triebfeder des gesamten Globalisierungsprozesses erachtet werden.

Parallel zur sich beschleunigenden Globalisierung verschoben sich in den letzten Jahrzehnten die internationalen Machtverhältnisse zum einen durch den Zusammenbruch des Ostblocks, zum anderen aber vor allem durch den wirtschaftlichen Aufstieg mehrerer großer Schwellen- und Entwicklungsländer außerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Meist werden Brasilien, China, Indien und Südafrika in diesem Zusammenhang genannt, die gemeinsam mit Russland als BRICS-Staaten oder einschließlich Indonesien als BRIICS bezeichnet werden. In den BRIICS lebt etwa die Hälfte der Weltbevölkerung und dort wird rund ein Viertel der weltweiten Bruttowertschöpfung (BIP) erwirtschaftet. Ohne BRIICS können mittelfristig zwar einige Fortschritte hin zur Nachhaltigkeit erzielt werden, aber langfristig werden sich ohne diese Staaten weder die ökonomischen Ströme und Kräfte in global nachhaltige Bahnen lenken lassen, noch werden globale Umweltprobleme hinreichend bewältigt werden können.

Die globale Umweltbelastung stellt eine der größten Herausforderungen für Global Governance dar, weil ihre Ursachen und Folgen ohne entschiedenes Handeln auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene nicht wirksam angegangen werden, das Nichtstun aber gravierende, für menschliche Maßstäbe unumkehrbare Folgen hat, bis hin zur Zerstörung der für den Menschen elementaren Lebensgrundlagen. Der Schutz des Klimas und der Biodiversität sind zwei prominente Beispiele für viele globale Umweltprobleme, die in der neueren oder neuesten Geschichte ihren Anfang hatten und sich zunehmend beschleunigen.

Alle drei Phänomene – ökonomische Globalisierung, internationale Machtverschiebungen und krisenhafte globale Umweltveränderungen – sind wichtig, um die großen Herausforderungen zu verstehen, vor denen koordiniertes politisches Handeln steht. Weil diese drei Prozesse umfassende Veränderungen in verschiedenen Bereichen auslösen bzw. ausgelöst haben, werden sie hier als "Wellen des globalen Wandels" [6] bezeichnet – eines Wandels, der wie Wasser in jede Höhlung und durch fast jede Ritze dringt.

Für die Politik folgt daraus, dass die Reichweite nationalen politischen Handelns bei weitem nicht mehr in der Lage ist, auf die Problem verursachenden Konstellationen hinreichend einzuwirken: Regierungen können selbst einige ihrer innenpolitischen Ziele nur im Zusammenwirken mit anderen Staaten erreichen. Deshalb bezeichnet der Soziologe Ulrich Beck Globalisierung als "Prozesse, in deren Folge die Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Marktchancen, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden" [7]. Folgt man Beck, der Globalisierung außerdem für nicht mehr revidierbar hält, bedeutet dies, dass es in der gestaltenden Politik nicht um Maßnahmen zur weitestgehenden Umkehrung der Globalisierung gehen kann, sondern dass sich politisch realistische Forderungen darauf konzentrieren müssen, die Globalisierung gerecht zu gestalten und diese durch global verbindliche Nachhaltigkeitsziele, -prinzipien und -maßnahmen einzuhegen. Dazu gilt es, gemeinsame Werte, Normen und Standards zu entwickeln.

Die Europäische Union (EU) ist eine wichtige Errungenschaft zur Sicherung von Frieden und Zusammenarbeit innerhalb Europas und mit Blick auf die Förderung von globaler Kooperation. Die Pionierrolle der Europäischen Union in der globalen Umwelt- und Klimapolitik hätten einzelne europäische Staaten so nicht ausfüllen können. Die Europäische Union ist ein wichtiger Baustein im Global Governance-Gefüge mit einer doppelten Verantwortung: zum einen bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen in den eigenen Mitgliedsstaaten, zum anderen im Rahmen der Unterstützung des multilateralen Prozesses [8]. Der Multilateralismus ist ein Grundprinzip der EU-Außenpolitik und ist in den EU-Verträgen festgeschrieben [9]. In der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung ist die Wahrnehmung der internationalen Verantwortung als ein Hauptziel aufgeführt [10]. Die EU-interne Gesetzgebung im Bereich Klimaschutz kann weltweit Vorbildcharakter haben. Die Vergemeinschaftung von Politikfeldern setzt allerdings voraus, dass die Staaten zum Souveränitätsverzicht bereit sind und sogar partielle Nachteile in Kauf nehmen, um ihre gemeinschaftlichen Ziele durch Kooperation besser erreichen zu können. Insoweit kann die Europäische Union als Vorreiterin für postnationales Handeln gesehen werden, wenngleich die Europäische Union wie die Vereinten Nationen nach wie vor kaum über das hinausgehen kann, was die nationalen Regierungen zulassen.

Die aktuelle institutionelle und wirtschaftliche Krise der Europäischen Union bleibt allerdings auch für die Global Governance-Prozesse und -Strukturen nicht ohne Konsequenzen: Erstens zeigt sich, dass auch eine wirtschaftlich weit entwickelte, mächtige und politisch stabile Staatengemeinschaft wie die Europäische Union in eine ökonomische Krise geraten kann, zu deren Bewältigung es der Global Governance bedarf (z. B. Unterstützung durch übrige G20 und IWF). Zweitens machen die Entwicklungen nach der Finanzkrise 2008 und der US-Immobilienkrise deutlich, dass sich im Ernstfall die einzelnen EU-Staaten, insbesondere auch die jeweiligen Bevölkerungen, schwer tun, nationale Interessen den Gemeinschaftsinteressen unterzuordnen. Drittens kreist die politische Agenda in wirtschaftlichen Krisenzeiten primär um Themen wie die ökonomische Stabilisierung und das Wirtschaftswachstum in der eigenen Region; für globale Fragen jenseits der Wirtschaftskrise bleibt zu wenig Raum, wie es die mühsamen Verhandlungen um ein wirksames Klima- oder Artenschutzabkommen zeigen. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, dass die Europäische Union die Verhandlungen der VN-Konferenz zu nachhaltiger Entwicklung in Rio de Janeiro im Juni 2012 (Rio+20) nicht wesentlich beeinflusste. Besorgnis erregend ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Europäische Union in ihrem Finanzrahmenplan künftig deutlich weniger Finanzmittel für Entwicklungszusammenarbeit vorsieht. Viertens schwächt die Krise die wirtschaftliche und politische Position der Europäischen Union gegenüber den übrigen G20-Staaten, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass die Wirtschaftskraft der Europäischen Union mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 13 Billionen Euro die der USA übertrifft und knapp 20 Prozent des globalen BIP ausmacht.

Zusammenfassend ist es zum einen wichtig, die Europäische Union als politischen Akteur im Interesse globaler nachhaltiger Entwicklung wieder voran zu bringen und sich gegen die Abschließungstendenzen gegenüber der "übrigen Welt" und gegen die

EU-interne Fragmentierung zu wenden. Ein Schritt hin zu einem einheitlichen und damit gewichtigeren Auftreten der Europäischen Union auf internationaler Ebene stellt die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes dar. Wichtig ist, dass sich auch die Evangelische Kirche für ein geeintes und handlungsfähiges Europa einsetzt. Zum anderen machen die Beobachtungen deutlich, wie wichtig die Implementierung funktionsfähiger Global Governance-Strukturen und -Prozesse ist, die sicher stellen, dass das Ziel einer global nachhaltigen Entwicklung auf internationaler Politikebene unabhängig von einzelnen engagierten Akteuren weiterverfolgt wird.

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