Gemeinsam evangelisch!

Erfahrungen, theologische Orientierungen, EKD-Text 119, Hrg. EKD, 2014, ISBN 978-3-87843-033-9

Anhang 1: Identitäten im neuen Umfeld: Phasenmodell der Integration

Im Folgenden sollen Entwicklungen beschrieben werden, die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft häufig durchlaufen. Viele dieser Prozesse werden zudem durch eine gewisse Ungleichzeitigkeit geprägt, weil sich neben Mitgliedern der zweiten oder dritten Generation von eingewanderten Christen auch Neuankömmlinge mit ihren spezifischen Anliegen in das Gemeindeleben einbringen.

Identität könnte auch als Prozess ständigen Balancierens[11] umschrieben werden. In diesem Prozess des Balancierens werden immer wieder neue Reaktionen des Individuums auf veränderte und unvermeidlich diskrepante oder konflikthafte Erwartungen im Rahmen des Interaktionsprozesses gefordert. Christen, die Mitglieder in einer Gemeinde anderer Sprache und Herkunft sind, sehen ihr Leben im neuen Umfeld durch zahlreiche neue Erfahrungen und Erlebnisse beeinflusst. Interne wie externe Faktoren gilt es hier als Ursachen anzusehen.

Im Anschluss an den symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead kann die soziale Realität, die gesamte einen Menschen umgebende Wirklichkeit nicht als etwas statisch Gegebenes gesehen werden, sondern als ein dauernder, symbolisch vermittelter Interaktionsprozess, innerhalb dessen die Einzelnen zum ständigen Aushandeln ihrer Rollen und Interessen motiviert sind. In diesem Prozess ist Identität nicht quasi der Fels in der Brandung, sondern wie Mead treffend formulierte: „ein Wirbel in der gesellschaftlichen Strömung“.[12] So ist die Identität eines Menschen, insbesondere wenn er sich in (zunächst) fremder Umgebung befindet, gekennzeichnet von Prozesshaftigkeit.[13]

In dieser Tradition lassen sich auch die Identitätsphasen verstehen, die Christen mit Migrationshintergrund bzw. die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft in der europäischen Diaspora durchleben. Es lassen sich drei Phasen ausmachen, die sich in einer alternierenden Prozesshaftigkeit gegenseitig ablösen. Durch sie soll versucht werden, dieses Phänomen zu beschreiben:[14]

  • Die Phase der Seklusion
  • Die Phase der Öffnung
  • Die Phase der Interkulturation

Hierbei handelt es sich nicht um evolutionäre Phasen, bei denen die eine zwingend auf die andere folgt. Je nach soziologischer oder theologischer Entwicklung kann eine Gemeinde oder Kirche in eine andere Phase „vor oder zurück“ wechseln. Für diesen Wechsel innerhalb der Phasen können unterschiedliche Erklärungen herangezogen werden. So kann das Heranwachsen der nächsten Generation, die im europäischen Kontext beheimatet und die z. B. der deutschen Sprache bereits mächtig ist, die Gemeinde in die Phase der Öffnung führen. So bringen sie u. a. deutschsprachige Freunde mit in den Gottesdienst. Andererseits kann die starke Fluktuation der Mitglieder in der Diaspora auch zu einem „Rückschritt“ in den Identitätsphasen führen. Es stoßen regelmäßig neue Mitglieder aus Afrika oder Asien zu den Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Durch sie und ihre heimatlichen Anschauungen und teils noch rudimentären Sprach-kenntnisse werden einige dieser Gemeinden in regelmäßigen Abständen vor eine Zerreißprobe gestellt. Oft müssen sie den Spagat zwischen bereits an europäische Verhältnisse angepasste Mitglieder und den kürzlich aus den ursprünglichen Heimatländern Neueingetroffenen meistern. Einwirkung auf die Phasen hat die immer wieder neu auftretende problematische Suche nach geeigneten Räumlichkeiten: Größere Räumlichkeiten werden nicht gewährt oder werden nur gegen viel Geld vermietet. Viele Gemeinden anderer Sprache und Herkunft machen in diesen Fragen Erfahrungen, die nicht dazu beitragen, eine verlässliche Beziehung zu Ortsgemeinden aufzubauen.

Erfahrungen von Abgrenzung und Ablehnung führen dazu, dass Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft bereits begonnene Öffnungsprozesse rückgängig machen oder sich in der zweiten oder dritten Generation wieder stärker sekludieren. Ein gelingender Prozess der Interkulturation bedarf der Offenheit beider Seiten.

Insgesamt lassen sich die drei Phasen der Seklusion, der Öffnung und der Interkulturation als alternierende Phasen umschreiben - Phasen, die ein „Kommen und Gehen“ aufweisen, eine gewisse Prozesshaftigkeit ist ihnen eigen. Um die drei Phasen zu beschreiben, lassen sich folgende Merkmale anführen:

Die Phase der Seklusion

In der Phase der Seklusion sprechen die Gemeindeglieder in den Gottesdiensten und untereinander meist ihre Muttersprache oder eine der ehemaligen Kolonialsprachen (Koreanisch, Twi, Lingala, Yoruba, Englisch, Französisch, Portugiesisch usw.). Es ist daher eher unüblich, dass Gemeinden und Kirchen in dieser Phase Mitglieder aus dem Land gewinnen, in dem sie sich befinden. Die Zusammensetzung ihrer Gemeinden kann sehr unterschiedlich aussehen. Manche monoethnischen Gemeinden bilden Heimat in der Fremde durch die Bewahrung kultureller Eigenheiten. Andere multiethnische Gemeinden sehen sich auch immer wieder mit internen Konflikten konfrontiert.

Die internen Findungsprozesse binden so viel Kraft, dass ökumenische Kontakte kaum gesucht werden. Auch die Angst vor Abwerbung von Gemeindegliedern begünstigt die Tendenz zur Selbstabschließung. Ein solches Klima fördert die Entwicklung bzw. Beibehaltung problematischer theologischer Lehren.[15]

Interkulturelle missionarische Unternehmungen sind durch die genannten Verhältnisse kaum bis gar nicht zu verzeichnen. Die Kirchen sind meist mit ihrer Organisation und ihrem Selbstfindungsprozess derart beschäftigt, dass sie eine Wende nach außen und missionarische Aktivitäten (noch) nicht angehen konnten. Allenfalls bestehen durch globale Vernetzungen Kontakte zur Mutterkirche oder anderen Kirchenzusammenschlüssen.[16]

Die Phase der Öffnung

Kirchen, die sich in der Phase der Öffnung befinden, verwenden als Gottesdienstsprache[17] eine europäische Sprache bzw. ihre ehemalige Kolonialsprache. Dies hängt damit zusammen, dass ihre Mitglieder meist polyglott sind und sich damit auch ihre Internationalität und Offenheit zeigen. Sie leben eine Offenheit gegenüber jeder christlichen Person, gleich welcher Nationalität, Konfession oder ethnischer Herkunft. Diese Gemeinden und Kirchen gestalten sich daher nicht nur polyglott, sondern sehr multikulturell. Dementsprechend gehört zu ihren gemeindlichen Aufgaben aktive Missionsarbeit, verbunden mit Evangelisationen in ihrem neuen Umfeld.

Zudem ist durch die nachhaltige Etablierung in der neuen Heimat eine ökumenische Zusammenarbeit bereits auf fruchtbaren Boden gefallen und gewinnt durch gemeinsame Gottesdienste oder Evangelisationen Gestalt.[18]

Die Phase der Interkulturation

In der Phase der Interkulturation haben autochthone Europäer den Weg in die Gemeinde gefunden und haben in entscheidenden Gremien (z. B. Presbyterium) Mitspracherecht.

Es ist sinnvoll, von Interkulturation zu sprechen, da ein gegenseitiger Austausch vorherrscht: Migratorische Erfahrungen und Überlieferungen aus der Heimat und Elemente europäischer Tradition befruchten sich gegenseitig.[19] Die Mitglieder bewegen sich zwischen unterschiedlichen kulturellen Orientierungen und es liegt ein wechselseitiger Austausch vor. Es besteht die dezidierte Absicht, unter Europäern zu missionieren und dementsprechend Gemeindeglieder zu gewinnen. Evangelisationen unterschiedlicher Art gehören zum „Tagesgeschäft“. Sie erfordern es, dass sie sich in einigen Punkten dem jeweiligen Gastland inkulturieren. So werden die Predigten meist in die europäische Landessprache übersetzt oder gar in dieser Sprache gehalten. Die Themen, die in den Predigten angesprochen werden, greifen üblicherweise auf die Herausforderungen im europäischen Alltag zurück.[20]

Nächstes Kapitel