Bedrohung der Religionsfreiheit

Einleitung

In unserer globalisierten Welt leben Menschen verschiedener Religionen und Konfessionen eng zusammen. Bereits der Blick in unsere nahe Umgebung zeigt, dass dieses Zusammenleben Konfliktpotenzial birgt. In Deutschland stößt zuweilen der Bau von Moscheen auf Widerstand in der Bevölkerung. Eltern haben daran Anstoß genommen, dass an Wänden von Klassenzimmern Kreuze aufgehängt waren. Es wird diskutiert, ob muslimische Lehrerinnen beim Unterrichten an öffentlichen Schulen Kopftücher tragen dürfen. Unsere deutsche Rechtswirklichkeit ermöglicht, dass Interessen geäußert werden und dass ein Streit notfalls gerichtlich entschieden wird.

Weitaus gravierendere Auswirkungen haben religiöse Konflikte, wenn sie mit schweren politischen, sozialen und kulturellen Konflikten zusammentreffen und wenn wirksame staatliche Maßnahmen zu ihrer Regelung fehlen. Vielerorts erleiden Menschen wegen ihres Glaubens schwerwiegende politische oder wirtschaftliche Nachteile oder werden zu Opfern gewaltsamer Übergriffe.

Wenn Menschen ihre Religion nicht frei ausüben können, sind sie in ihrer innersten Freiheit betroffen, nämlich der Freiheit, den Sinn ihres Lebens selbst zu erkennen und das Leben als Ganzes danach zu gestalten. Eine Gesellschaft, in der Würde und Wert des einzelnen Menschen gewahrt sind, ist ohne Religionsfreiheit nicht denkbar. Darüber hinaus ist die Religionsfreiheit, wie die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im Jahr 1948 erklärt hat, „wesentliches Element einer guten
internationalen Ordnung“.

Die christliche Gemeinde ist herausgefordert, sich für die Verwirklichung der Religionsfreiheit einzusetzen. Freilich nicht allein um ihrer eigenen Freiheit willen, sondern für eine universelle Religionsfreiheit, die allen Menschen und Religionsgemeinschaften gilt. Denn, so hat es die Vollversammlung des ÖRK im Jahr 1961 formuliert, „die Freiheit, zu der Christus befreit hat, weckt die Verantwortung für das Recht des anderen“. Kirchen und Religionsgemeinschaften tragen hierfür auch deshalb eine große Verantwortung, weil religiöse Gefühle einen besonderen Mobilisierungseffekt haben und immer wieder zu Intoleranz, zur Unterdrückung Andersdenkender und zur Eskalation von Konflikten zwischen Religionsgemeinschaften beigetragen haben.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat im Jahr 1998 anlässlich des 50. Jahrestages der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erklärt: „Der Rat der EKD setzt sich insbesondere für Menschen ein, die um ihres christlichen Glaubens willen verfolgt werden; er tut dies auch um der Glaubensfreiheit aller Menschen willen und tritt deshalb im Dialog mit seinen ökumenischen Partnern zugleich für die Glaubensfreiheit der Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften ein.“

In diesem Sinne soll diese Textsammlung die Situation bedrängter Christen ins Blickfeld rücken und Solidarität mit den Menschen zum Ausdruck bringen, denen die Religionsfreiheit vorenthalten wird. Damit soll sie einen Beitrag leisten zur Verwirklichung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit.

Ein weiteres Anliegen dieser Publikation ist es, für die dem Problemfeld Religionsfreiheit eigene Komplexität zu sensibilisieren und Hintergründe für Konflikte zwischen Religionsgemeinschaften und Gläubigen ans Licht zu bringen. Denn wirkliche, universelle Religionsfreiheit setzt voraus, dass die religiösen Lebensäußerungen einer Religionsgemeinschaft in ihrer Wechselwirkung mit den Interessen und Rechten aller Menschen gesehen werden. Die Terroranschläge in New York und Washington am 11. September 2001 und ihre Folgen haben die Polarisierung zwischen westlicher und muslimischer Welt verstärkt. Zugleich haben sie das Bewusstsein für die eminente Bedeutung eines friedlichen Miteinanders der Religionen geschärft. Religiöse Konflikte sind ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Meldungen von blutigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen im Norden Nigerias oder von Anschlägen auf christliche Einrichtungen in Pakistan haben Erschrecken in der internationalen Öffentlichkeit hervorgerufen. Die Hintergründe und Auswirkungen solcher Vorfälle erhalten jedoch in der Medienöffentlichkeit oft wenig Aufmerksamkeit. Häufig werden sie unvollständig oder vereinfacht dargestellt und als Schwarz-Weiß-Szenario wahrgenommen. Der Blick auf die Hintergründe ist jedoch wichtig, so unbequem er auch sein mag. Eine einseitige Sicht, welche die Motive, Bedürfnisse und Wunden einer Konfliktpartei ignoriert, verhindert Versöhnung und Frieden. Es ist Aufgabe von Kirchen und Christen, für gegenseitiges Verständnis und Achtung zu werben, überzogenen Feindbildern und irreführenden Verallgemeinerungen entgegenzutreten und so einen Beitrag zu Verständigung und friedlichem Zusammenleben zu leisten.

Diese Publikation kann nur einzelne Aspekte des komplexen Themenfeldes herausgreifen. Im ersten Teil vertieft Robert Leicht einige grundsätzliche Aspekte; Dwain Epps nähert sich dem Thema aus der ökumenischen historischen Perspektive; Hermann Gröhe und Gerhard Robbers beleuchten den politischen und den völkerrechtlichen Kontext. Im zweiten Teil werden an ausgewählten Länderbeispielen unterschiedliche Situationen christlicher Minderheiten und deren Hintergründe dargestellt. Die Artikel wurden von Personen verfasst, die die Situation in den jeweiligen Ländern aus langjähriger eigener Erfahrung und Arbeit kennen. Sie gehen über eine Symptombeschreibung hinaus und vergegenwärtigen zum Teil Jahrhunderte zurück reichende Konfliktursachen, führen die verschiedenen Sichtweisen der Konfliktparteien vor Augen und zeigen Unterschiede im Verständnis von Religionsfreiheit und Menschenrechten sowie die Verquickung zwischen religiösen, sozialen und politischen Interessen auf. Obgleich sich Ursachen und Auswirkungen vielfach ähneln, verdeutlichen die Länderartikel, wie komplex und unterschiedlich die jeweiligen Rahmenbedingungen sind und wie oberflächlich der Blick von außen oft bleibt. Damit regen die Artikel zum Hinterfragen von Verallgemeinerungen und Feindbildern an. Bei dem knappen zur Verfügung stehenden Raum können diese Artikel jeweils nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden. Weiterführende Literaturhinweise am Ende eines jeden Artikels sowie im Praxisteil geben die Möglichkeit, angeschnittene Problemfelder zu vertiefen.

Viele Regionen und Konfliktsituationen müssen notgedrungen gänzlich unberücksichtigt bleiben. Keine
Erwähnung finden zum Beispiel die Schicksale derjenigen, die in Lateinamerika bedroht, aus ihren Gemeinden vertrieben oder willkürlich verhaftet werden, weil sie ihrer religiösen Überzeugung folgend aktiv für gerechtere Lebensbedingungen eintreten. Unzählige Konflikte, die über viele Jahre gewaltsam entlang religiöser Trennlinien ausgetragen worden sind und unzählige Opfer gekostet haben, wie der in Irland oder der zwischen Israel und Palästina, fanden keinen Eingang in die Länderbeispiele. Die Auswahl folgte dem Ziel, ein vielseitiges Bild unterschiedlicher regionaler und religiöser Kontexte zu vermitteln. Eine strenge Einordnung nach der Schwere der Bedrohungssituation war, auch wenn diese nicht unberücksichtigt blieb, nicht beabsichtigt, zumal die regionalen Situationen aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit kaum vergleichbar sind. Die Auswahl richtete sich auch danach, welche Länder aufgrund intensiver kirchlicher Kontakte für die praktische Arbeit in Kirchenämtern und Gemeinden von besonderer Bedeutung sind. Denn diese Publikation soll evangelischen Kirchen, ihren Werken, Kirchengemeinden und engagierten Christinnen und Christen Hilfestellung geben im Umgang mit Hilferufen. Dafür enthält der dritte Teil praktische Hinweise.

Beim Lesen wird sich immer wieder die Frage nach dem konkreten Inhalt des Menschenrechts auf Religionsfreiheit stellen. Denn obgleich die Kernbedeutung der Religionsfreiheit weitgehend klar ist, herrscht Uneinigkeit darüber, was genau vom Begriff Religion umfasst wird und welche konkreten Verhaltensweisen vom Recht auf Religionsfreiheit geschützt werden. Kirchliche und völkerrechtliche Antworten auf diese Fragen zeigen Dwain Epps und Gerhard Robbers im ersten Teil der Publikation auf; Hinweise auf grundlegende Texte des ÖRK sowie relevante Auszüge aus völkerrechtlichen Abkommen sind im dritten Teil zu finden.

Die Evangelische Kirche in Deutschland dankt der Referentin für Menschenrechtsfragen Corinna Schellenberg und der Arbeitsgruppe für ihre Arbeit. Sie hofft, dass die Textsammlung einen Beitrag zur innerkirchlichen Positionsbestimmung leistet und den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft beim Einsatz für eine weltweite Verwirklichung der Religionsfreiheit Hilfestellung bietet.

Vizepräsident Bischof Dr. h. c. Rolf Koppe
Leiter der Hauptabteilung Ökumene und Auslandsarbeit
Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland
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