Das Evangelium unter die Leute bringen

V. Von den Formen und Trägern der Evangelisation

(1) Evangelisation bringt das Evangelium von Jesus Christus zur Sprache und redet einladend über den Glauben. Das ist die normale, selbstverständliche Aufgabe jeder Christin, jedes Christen und jeder christlichen Gemeinde. Sie geschieht vor allem als ein fortwährender Prozess im Alltag der Christinnen und Christen und der Gemeinden und Gemeinschaften. In der gegenwärtigen Situation ist es nötig, dieses Geschehen zu profilieren.

(2) Früher unterschied man zwischen kontingentem und permanentem Evangelisieren: Meinte das eine die besondere evangelistische Veranstaltung (z. B. in Gestalt einer Zeltmission), so bezog sich das andere auf den stetigen evangelistischen Dienst, der sich in der gemeindlichen Arbeit vollzieht, insofern sie glaubenweckende Verkündigung einschließt. Heute ist die Grenzziehung zwischen dem einen und dem anderen komplizierter. Z. B. können bestimmte evangelistische Aktionen (wie etwa Glaubenskurse) zum regelmäßigen Programm einer gemeindlichen Jahresplanung gehören. Oder: Die alltägliche pfarramtliche Arbeit bei Kasualien oder im Religionsunterricht oder in der Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden geschieht sehr oft in einer missionarischen Situation. Wir schlagen daher vor, verschiedene Handlungsebenen zu unterscheiden (nicht aber zu trennen!), auch wenn es dabei Überschneidungen gibt.

V.1 Das persönliche Lebenszeugnis von Christinnen und Christen im Alltag

(3) Es sind vor allem die persönlichen Begegnungen in Familie, Nachbarschaft, Schule, Beruf und Freizeitwelt, die für die Weitergabe des Glaubens geeignet sind. Die eigene Erfahrung mit dem Evangelium von Jesus Christus weckt die Sehnsucht, dass auch andere diese besondere Erfahrung der Liebe Gottes machen. Im Kontext gelebter Beziehungen können Gespräche über das Evangelium und den Glauben stattfinden. Der unauflösliche und notwendige Zusammenhang von Leben und Wort ist in diesen alltäglichen Formen der Evangelisation offensichtlich. Die erste Bedingung für dieses Zeugnis im Alltag ist die Fähigkeit und Bereitschaft der Christinnen und Christen, sich auf intensive und echte Beziehungen zu anderen Menschen einzulassen und sich weder in ein binnenkirchliches Leben zurückzuziehen, das keinen Raum mehr für ernsthafte Beziehungen zu anderen Menschen lässt, noch so in das gesellschaftliche Leben einzutauchen, dass sie in keiner Weise mehr als Christinnen und Christen zu identifizieren sind. Die Beziehungen zu anderen Menschen sollen dabei nicht in vordergründiger Weise für eine missionarische Strategie funktionalisiert werden. Vielmehr soll das, was das Leben einer Christin und eines Christen im Innersten zusammenhält, auch im Kontakt zu anderen Menschen bezeugt werden. Wie könnte man in ernsthaften zwischenmenschlichen Beziehungen auch schweigen „von dem, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg 4,20)?

(4) Die zweite Bedingung dafür, dass das Zeugnis des Glaubens im Alltag laut werden kann, ist die Fähigkeit, vom eigenen Glauben überzeugend sprechen zu können. Es geht um die Frage, was denn für uns als Christinnen und Christen der einzige Trost im Leben und im Sterben ist. Wir müssen wieder eigene, persönlich verantwortete Worte für unseren Glauben finden. Oft können das gerade Jugendliche relativ unkompliziert. Sie sprechen zumeist nicht allgemein über den Glauben, sondern persönlich und zeugnishaft von ihrem eigenen Glauben.

(5) Nun geschehen aber Leben und Dienst der einzelnen Christinnen und Christen immer in der organischen Gemeinschaft des Leibes Christi. Die Gemeinde ist Trägerin der Dienste, also auch der Evangelisation. Darum ist es ihre wichtigste Aufgabe, ihre Glieder zur Evangelisation zu ermutigen und sie dazu sprachfähig zu machen. So kann die merkwürdige Verschämtheit, über den Glauben zu sprechen, überwunden werden. Wenn die Gemeinde die evangelistischen Potenziale ihrer normalen Arbeit nutzt, fördert sie die einzelnen Christinnen und Christen bei der Weitergabe ihres Glaubens. Je besser der evangelistische Dienst der einzelnen Gemeindeglieder gelingt, desto mehr gewinnt das gemeindliche Leben evangelistisches Profil.

(6) Die Menschen in der DDR haben die Kirche in Massen verlassen, zurückgewonnen werden können sie nur als Einzelne (W. Krötke). Die Situation ist in den alten Bundesländern tendenziell ähnlich. Darum liegt für die Zukunft des Glaubens so viel an dem persönlichen Lebenszeugnis von Christinnen und Christen in ihrem Alltag. Es beginnt in der Familie und setzt sich fort im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, im Berufsleben und an den Orten sozialer und kultureller Begegnung. Dabei werden die Christinnen und Christen die Erfahrung machen, dass ihr eigener Glaube gestärkt wird, wenn sie anderen von ihm erzählen. Der Glaube lebt vom Weitersagen. Es kann sogar sein, dass gerade in der Begegnung mit den Fragen anderer Menschen der eigene Glaube eine Vertiefung erfährt, so wie es Petrus nach Apg 10 erging, als er das Evangelium in der Begegnung mit Kornelius noch einmal neu zu buchstabieren lernte.

(7) Für diesen Dienst des alltäglichen Glaubenszeugnisses ist es wichtig, dass ihm die Angebote der Gemeinde entsprechen. Die Gemeinde muss „Aufnahmeräume“ anbieten, in die hinein die Christinnen und Christen ihre Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Nachbarinnen und Nachbarn einladen können. Eine gastfreundliche Atmosphäre ist also in den Gemeinden nötig. Sie muss planvoll entwickelt werden. Dabei wird sich zeigen, dass bei vielen Gemeindegliedern Fantasie und Wille dazu schlummern. Die Erfahrung, dass Einladungen auch nicht angenommen werden und dem Zeugnis auch widersprochen wird, darf nicht dazu verführen, dass die Glaubenden sich in eine Art Bunkermentalität zurückziehen und Kontakte nach außen scheuen.

V.2 Evangelistische Potenziale der normalen Gemeindearbeit

(8) Die regelmäßige Form der Evangelisation durch persönliche Begegnungen und Gespräche ist durch Evangelisation in den traditionellen, regelmäßigen Dienstformen der Gemeinden zu ergänzen und zu verstärken, indem die evangelistischen Potenziale in der Gemeindearbeit gesucht und gefunden, angenommen und genutzt werden:

  • Dies geschieht durch einladende Gottesdienste, in denen eine verständliche und nachvollziehbare, liebevoll gestaltete und von vielen getragene Liturgie sowie eine elementare, glaubenweckende Verkündigung die gemeinsame Feier prägen;

  • durch inzwischen weit verbreitete „zweite Programme“ des Gottesdienstes, die auf besondere Gruppen wie Familien und Jugendliche, auf besondere Themen oder auf besondere – auch nichtkirchliche – Feiertage ausgerichtet sind. In solcher Ausrichtung haben diese Gottesdienste immer einen besonderen Anlass. Der Anlass hebt sie aus der Reihe der sonstigen Gottesdienste heraus. Das macht es Menschen, denen die Gottesdienste nicht mehr vertraut sind, leichter, einmal wieder einen Gottesdienst zu besuchen. Der jeweilige Anlass macht es zugleich den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern leichter, Gäste zum Gottesdienst persönlich einzuladen;

  • durch die Amtshandlungen als „Tore zum Leben“, sofern sie eingebettet werden in eine integrale Kasualpraxis (Geleit, Gespräch, Gottesdienst, Gruppenangebote, Besuche und diakonische Hilfen) und dabei die Kraft des Evangeliums in lebenswendenden Situationen kundgetan wird;

  • durch Kinderbibelwochen, die von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kindergottesdienste und solchen aus der Jugendarbeit vorbereitet werden und in den kurzen Schulferien oft für nur eine Woche insgesamt mehr Kinder „unter das Wort“ bringen als alle Kindergottesdienste zusammen in einem ganzen Jahr;

  • durch die verschiedenen Modelle der Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden als erstrangige Herausforderung für die Jugendevangelisation. Gute Konfirmandenarbeit bleibt – wie empirische Studien zeigen – besonders lange in positiver Erinnerung, wirkt also über sich selbst hinaus und bildet damit auch Anknüpfungspunkte für spätere Begegnungen mit dem Evangelium und mit der Kirche. Zudem können bei Eltern (und Großeltern) neue Fragen nach dem Glauben aufbrechen, wenn sie erleben, wie Glaubensfragen die Konfirmandinnen und Konfirmanden beschäftigen;

  • durch Verkündigung und Gespräche im Rahmen der zielgruppenspezifischen Angebote der Gemeinden: Kinder- und Jugendarbeit, Offene Bibelabende, Frauenkreise, Männerkreise, Hauskreise, Kindergärten, Elternabende, kirchenmusikalische Arbeit etc.;

  • durch Besuchsdienstgruppen, die sich nach gründlicher Schulung aufmachen, um den Kontakt zu den Menschen herzustellen, die aus verschiedenen Gründen nicht am Leben der Gemeinde partizipieren, und sie auf die Gemeinde und das in ihr verkündigte Evangelium aufmerksam zu machen. Solche Besuche werden gerne angenommen, wenn sie aus Anlass von Geburtstagen, bei Tauf- und Ehejubiläen, in Zeiten einer Krankheit oder in den Zeiten einer Trauer nach einem Todesfall geschehen. Weil es so viele Anlässe gibt und darum die Gefahr der (Selbst-)Überforderung besteht, ist es zweckmäßig, sich für vereinbarte Zeiträume auf nur einen oder zwei Anlässe zu konzentrieren;

  • durch Freizeiten, Tagungen und Seminare für die verschiedenen Alters- und Zielgruppen, die besondere Möglichkeiten für die zum Glauben einladende Verkündigung bieten, weil sie das gesprochene Wort in die gelebte Gemeinschaft einbetten;

  • durch ansprechend gestaltete Gemeindebriefe, die alle Haushalte der Gemeinde erreichen;

  • durch Feste und Feiern, bei denen eine niedrigschwellige Kommunikation geschieht, die Außenstehenden die Teilnahme an ihr erleichtern;

  • durch die Öffnung von Kirchengebäuden, die eine historische und / oder künstlerische Bedeutung haben und in denen Führungen angeboten werden oder die bei günstiger Lage, etwa in Fußgängerzonen, Möglichkeiten zu Besinnung und Gebet bieten.

(9) Es geht hier insgesamt also gar nicht um neue Pflichtprogramme oder um zusätzliche Arbeitszumutungen. Die Frage ist vielmehr, ob und in welcher Weise diese Gelegenheiten tatsächlich für die Werbung des Glaubens genutzt werden bzw. wie sie besser dafür genutzt werden können. Evangelisation ist nicht denkbar ohne eine Veränderung der Gemeinde: Haltung, Arbeitsweise und Kultur einer Gemeinde, die zu evangelisieren beginnt, verändern sich notwendigerweise. Daher ist es sinnvoll, mit den Verantwortlichen in der Gemeinde in größeren Zeitabständen über Grundentscheidungen des Gemeindeaufbaus nachzudenken und eine geistliche Perspektive für die Gemeinde zu entwickeln. Methoden der Perspektivberatung und der Gemeindeentwicklung können hier eine wesentliche Hilfe sein. Wenn erst die Grundüberzeugung in den Gemeinden vorhanden ist, dass alle Menschen das Evangelium von Jesus Christus zum Leben und zum Sterben brauchen und deshalb hören sollen, können methodische Hilfestellungen relativ leicht gegeben werden. Fast alle Landeskirchen haben dafür besondere Amter für missionarische Dienste mit erfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Außerdem gibt es freie Werke, die bereitwillig ihre Unterstützung für die Gemeinden zur Verfügung stellen. Es ist also für die Gemeinden nicht schwer, in die Verantwortungsgemeinschaft für die Zukunft des Glaubens einzutreten.

V.3 Projekte des missionarischen Gemeindeaufbaus

(10) Zusätzlich zu den traditionellen Formen der evangelistischen Verkündigung in der Gemeindearbeit werden seit einigen Jahren Projekte angeboten, die von den Gemeinden in Anspruch genommen werden können und vielerorts zum integralen Bestandteil des missionarischen Gemeindeaufbaus geworden sind. Innerhalb einer Gemeindeaufbaustrategie haben sich als besondere Arbeitsformen und Projekte der Evangelisation bewährt:

  • Glaubenskurse wie „Christ werden – Christ bleiben“, der „Alpha-Kurs“ oder der „Emmauskurs“ führen katechismusartig in die Grundaussagen des Evangeliums ein (Wissensaspekt) und ermutigen zu ersten Schritten im Glauben (Erfahrungsaspekt).

  • Der „Religionsunterricht für Erwachsene – Stufen des Lebens“ (Willsbacher Modell nach Waltraud Mäschle). Biblische Geschichten werden mit Hilfe von Bodenbildern visualisiert und zugleich mit der Lebensgeschichte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer verknüpft, die sich in der Geschichte wiederentdecken können. Es handelt sich um einen sehr kommunikativen Glaubenskurs, der zu wechselnden Themen durchgeführt werden kann: „Ob Vertrauen sich lohnt“ (Abraham) oder „Ein Platz an der Sonne“ (mit neutestamentlichen Beispielgeschichten).

  • Auch hier sind zweite, besonders auf Suchende ausgerichtete Gottesdienstprogramme wie die „Thomas-Messe“ oder „goSpecial“ zu nennen. Sie arbeiten zielgruppenorientiert und verbinden die deutliche Verkündigung des Evangeliums mit einer Einpassung der Kommunikationsformen im Gottesdienst in die jeweilige kulturelle Umwelt. Sie machen mit der Erfahrung ernst, dass eine Gottesdienstform nicht alle Erwartungen und Einstellungen der Gemeindeglieder abdecken kann.

  • Hierher gehören ferner Gemeindepflanzungsinitiativen, die oft von evangelistisch aktiven Gemeinden ausgehen, mit „zweiten Programmen“ des Gottesdienstes an säkularen Orten und Hauskreisarbeit einhergehen und sich in bisher vom Evangelium unerreichten Gebieten oder aber in kirchlich nicht mehr versorgten Bereichen platzieren.

  • Auch die Impulse der US-amerikanischen Gemeindeaufbau-Initiativen in Deutschland gehören in diesen Zusammenhang: Von der Willow Creek Community Church (WCCC) etwa kann die konsequente Ausrichtung der Gemeindearbeit an den Menschen, die für das Evangelium gewonnen werden sollen, erlernt werden. Die Verantwortlichen dieser Initiativen (wie etwa Bill Hybels) weisen dabei immer wieder darauf hin, dass es im deutschen Kontext um ein Lernen von solchen Grundentscheidungen geht und nicht um simple Übertragung von Arbeitsformen wie dem „seeker service“.

  • Das Projekt „Neue Schritte“ übersetzt die überparochiale Initiative „Neu anfangen“ auf kleinere Bereiche, etwa eine Kirchengemeinde: Ehrenamtliche rufen die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Bereichs an und bieten ihnen ein Buch mit Glaubenszeugnissen als Geschenk an. Dabei laden sie zu befristeten Gesprächsgruppen ein. Den Angerufenen steht es stets frei zu entscheiden, inwieweit sie sich auf den angebotenen Kontakt mit der Gemeinde einlassen.

  • Evangelistische Wochen mit Verkündigern und Teams der landeskirchlichen Missionarischen Dienste und anderer Organisationen.

  • Konzerte und Festivals. Das klassische Kirchenkonzert auf anspruchsvollem Niveau findet nach wie vor erstaunliches Interesse. Festivals für Jugendliche bieten die Chance der Zusammenarbeit mit jugendlichen Musikgruppen, die häufig evangelistische Interessen verfolgen, aber oft schwer ihren Platz in den Gemeinden finden.

  • Stadtteilcafés und Buchläden in gemeindlicher Trägerschaft. Sie erwachsen meist aus dem Engagement von Ehrenamtlichen. Das zeigt einerseits, dass es für fantasievolle, oft unkonventionelle evangelistische Arbeitsformen Bereitschaft zur Mitarbeit gibt. Andererseits zeigt sich darin die Aufgabe, neue Initiativen mit dem Gewohnten zu vernetzen, um das evangelistische Gesamtprofil der Kirche zu verstärken.

  • Musikalische Mitmachangebote wie Gospelchöre oder Kantatenwochenenden, bei denen die einstudierte Kantate sonntags im Gottesdienst aufgeführt wird. Sie sind ein besonders gutes Beispiel dafür, dass Menschen durchaus bereit sind, ihre Zeit dem Leben der Gemeinde zur Verfügung zu stellen, sofern die Zeit ihres Engagements überschaubar bleibt.

(11) Evangelistische Projekte haben unterschiedliche Funktionen für die Gemeinden:

  • Sie unterstützen und ergänzen die regelmäßige einladende Verkündigung, die in der traditionellen Gemeindearbeit geschieht. Es hilft, die gleiche Sache durch andere Menschen und in anderer Weise zu sagen, um Gespräche über Lebens- und Glaubensfragen wieder in Gang zu bringen.

  • Sie sind Kristallisationspunkte und Katalysatoren für den regelmäßigen missionarischen Prozess in der Gemeinde. Die Projekte inspirieren die Gemeindeglieder, bringen neue Begabungen für die Mitarbeit in der Gemeinde zur Geltung und helfen, Gewöhnungserscheinungen zu überwinden.

  • Sie fördern die Zusammenarbeit von verschiedenen Gruppierungen in der Gemeinde.

  • Sie bieten den Gemeinden die Möglichkeit, mit ihrem Zeugnis und Dienst in die größere Öffentlichkeit zu gehen.

  • Sie konzentrieren die Gemeindearbeit auf Zeit und bieten so gemeinsame Höhepunkte im gemeindlichen Jahreskalender.

Mit dem allen helfen evangelistische Projekte den Gemeinden, ihr eigenes missionarisches Leitbild zu entwickeln, wie es bei der Synode der EKD 1999 empfohlen worden ist.

V.4 Regionale Kooperation

(12) Die Lebensräume der Menschen sind größer geworden. Zwar haben elementare Lebensbedürfnisse wie Essen und Schlafen ihren Ort weiterhin in den Parochien. Auch Taufen, Konfirmationen und Beerdigungen haben dort ihren Platz. Aber Berufstätigkeit, Freundschaften, Vereinsinteressen und Freizeitgestaltung reichen weit über die parochialen Grenzen hinaus. Darum muss eine Kirche, die für den Glauben werben will, über die Grenzen der Parochien hinaus und in Gemeinschaft mit anderen Kirchen (Freikirchen, Katholische Kirche) denken und tätig werden.

(13) Die überparochiale Kooperation beginnt mit der Kirche in der Region: Die großen Kirchen in den Städten etwa ziehen durch Kirchenführungen und gelegentliche Veranstaltungen der City- und Stadtkirchenarbeit (etwa ein Adventssingen für die ganze Stadt, durch allgemein interessierende Ausstellungen oder durch Vorträge) Menschen weit über parochiale Grenzen hinaus an und bringen sie in Kontakt mit kirchlichem Leben.

(14) Sodann ist die Arbeitsgemeinschaft von Gemeinden in einer Region zu nennen. Ein gutes Beispiel für regionale evangelistische Arbeit ist das Projekt „Neu anfangen“, bei dem sich Gemeinden einer Region (und zuweilen auch unterschiedlicher Konfession) zusammentun, um die Haushalte in ihrem Bereich zunächst anzurufen, den Angerufenen ein Buch mit Glaubenszeugnissen anzubieten, sie dann zu besuchen und bei bleibendem Interesse zu befristeten Gesprächsgruppen einzuladen. Ein anderes Beispiel für überregionale Kooperationen ist das EKD-Projekt „Brücken bauen“ oder die Arbeit des „Frühstückstreffens für Frauen“. Auch regionale Rundfunk- und Fernsehprogramme sowie Internet-Angebote sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen.

(15) Viele dieser Projekte würden die einzelne Gemeinde überfordern, sind aber im Verbund durchaus möglich. Dass die Gemeinschaft der Gemeinden einer Region dadurch gefördert wird, ist mehr als ein erfreulicher Nebeneffekt dieser „evangelistischen joint ventures“. Wo Zusammenarbeit als notwendig erkannt wurde und sich in der Praxis bewährt hat, hat sie sich auch über örtlich und zeitlich begrenzte einmalige Kooperationen hinaus auf Dauer organisiert und institutionalisiert.

(16) Aufgabe regionaler und überregionaler Kooperationen ist es also, den Gemeinden und den einzelnen Christinnen und Christen bei der Erfüllung der Aufgabe der Evangelisation zu helfen. Diese Hilfe kann in unterschiedlicher Weise von verschiedenen Ebenen aus gegeben werden. Großräumige Vernetzung unterstützt z. B. die persönliche und örtliche Arbeit durch Verstärkung der öffentlichen Wirkung und durch rationelleren Einsatz der Mittel auf Grund von Synergieeffekten.

(17) Um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, insbesondere der überregionalen Medien auf bundesdeutscher Ebene zu erreichen, sind Projekte nötig, die über die Grenzen einzelner Landeskirchen hinausgehen. Sie bedürfen der intensiven Förderung durch die EKD. Solche Projekte ergänzen und unterstützen die regelmäßige evangelistische Arbeit in den Gemeinden und regionalen Kooperationen.

(18) Hierzu gehört zum Beispiel „ProChrist“ als eine moderne Form der evangelistischen Verkündigung. ProChrist verknüpft die mediale Vermittlung des Evangeliums als Einladung zum persönlichen Glauben mit der gemeindeorientierten Evangelisation, die die Gaben der Christinnen und Christen in der Ortsgemeinde bzw. in lokalen und regionalen Gemeindeallianzen schult und zum Zuge kommen lässt. Die Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Anlass von „ProChrist“ wirkt wiederum positiv zurück auf die Befähigung zum Zeugnis für den Glauben im Alltag und zur Mitarbeit in der Gemeinde.

V.5 Kirchenleitendes Handeln

(19) Bei aller Unterschiedlichkeit kirchlicher Verfassungen innerhalb der EKD bieten sich den kirchenleitenden Gremien vielfältige Möglichkeiten zum Bezeugen des christlichen Glaubens und zur Förderung der Evangelisation:

(20) Zu den ältesten und wichtigsten Pflichten der Kirchenleitung gehört die Regelung der Ordination und Visitation. Die Ordination gibt Gelegenheit, Erwartungen an die künftigen Pfarrerinnen und Pfarrer zur Sprache zu bringen; die Visitation gibt Gelegenheit, den Gemeinden bei der Planung ihrer Arbeit zu helfen. In beiden Aufgabenbereichen können die Perspektiven der Evangelisation wirksam zur Geltung gebracht werden. Die Ermutigung bestehender evangelistischer Bemühungen und die Anregung zu neuem evangelistischen Wirken könnten dabei in Zukunft verstärkt berücksichtigt werden.

(21) Kirchenleitungen haben vielfältige Begegnungen mit Verantwortungsträgern der Gesellschaft: Parteien, Sozialverbände, Vereinigungen des Wirtschafts- und Arbeitslebens, Institutionen in Kultur und Wissenschaft. Bei diesen Begegnungen geht es in aller Regel um Sachfragen des Gemeinwohls in der besonderen Perspektive der jeweiligen Gruppe. In diesen Sachfragen kommen aber zumeist fundamentale Trends der gesellschaftlichen Entwicklung zur Sprache, die das Leben der Menschen betreffen. Oft ist dabei auch ein behutsames Glaubenszeugnis nötig und möglich. Darüber hinaus sammelt sich hier ein Wissen von Lebenswirklichkeit an, das oft noch nicht in Büchern und Zeitschriften steht, aber für jede Art der Verkündigung wichtig ist. Solches Wissen darf nicht allein bei den Kirchenleitungen verbleiben. Es ist eine eigenständige Aufgabe für sie, solches Wissen denen zur Verfügung zu stellen, die an der sogenannten Basis arbeiten, damit diese Arbeit die Lebenswirklichkeit der Menschen möglichst genau trifft.

(22) Zu den unverzichtbar wichtigen Aufgaben der Kirchenleitungen gehören die regelmäßigen Gesprächskontakte mit solchen freien Werken und Verbänden in der Kirche, die in besonderer Weise für die evangelistische Arbeit stehen: Landeskirchliche Gemeinschaften (Gnadauer Gemeinschaftsverband), Pfarrerinnen- und Pfarrer-Gebets-Bund (PGB), Geistliche Gemeindeerneuerung (GGE). Die Erfahrungen aus solchen Gesprächen sind für die Kooperation mit diesen Vereinigungen in Gemeinden und Kirchenbezirken (Dekanaten, Kirchenkreisen) im normalen Arbeitsablauf und bei gemeinsamen evangelistischen Aktionen unverzichtbar wichtig.

(23) In vielen Landeskirchen besteht gar kein Mangel an evangelistischen Ideen und Aktionen, wohl aber ein Mangel an zielgerichteter Kooperation derer, die die Ideen haben und die Aktionen tragen. Kirchenleitungen können diesen Mangel nicht durch Aufsichtsmaßnahmen beheben. Sie können aber als „dialogische Steuerungszentralen“ in Absprache mit den Verantwortlichen für Gesamtplanungen durch Jahresthemen, durch zeitlich begrenzte Zielgruppenpräferenzen und andere kampagnenartige Aktionen sorgen. So wird evangelistisches Profil gestärkt. So werden Einzelne, Gruppen und Gemeinden, die sich daran beteiligen, von der Nötigung entlastet, ihr besonderes Engagement besonders begründen zu müssen.

(24) Zu nennen ist schließlich auch die Beteiligung kirchenleitender Personen an evangelistischer Verkündigung, indem sie selbst sich als „Evangelisten“ in ihrer Landeskirche verstehen und betätigen. Denkbar wäre so etwas wie ein jährlicher „bischöflicher Wanderzirkus“ (Klaus Teschner), bei dem z. B. vier leitende Geistliche an vier zentralen Orten jeweils an einem Tag „auftreten“ und evangelisieren.

V.6 Weitere Träger der Evangelisation

(25) Denkbar ist auch die bessere Nutzung von außergemeindlichen Initiativen, die bislang nicht im Blick waren, wenn es um Evangelisation ging. Entscheidend ist dabei die evangelistische Motivation der Menschen, die in solchen Bereichen leben und arbeiten. Ohne den Eigenwert und die Selbständigkeit der einzelnen Arbeitsfelder zu hinterfragen, soll auf evangelistische Potenziale hingewiesen werden:

  • Christliche Buchhandlungen (z. B. mit gelegentlichen Lesungen, kleinen Konzerten, einem Gesprächsangebot in einem „Buchcafé“, Internet-Café, einer Profilierung des Buchangebotes);

  • Kircheneintrittsstellen, die nicht nur verwaltungsmäßig orientiert sind, sondern selbst Möglichkeiten zur Kommunikation über das Evangelium anbieten (z. B. durch Grundkurse des Glaubens);

  • diakonische Angebote wie „second-hand-shops“, Obdachlosen-Initiativen, Beratungsstellen, Kranken- und Altenpflege, Krankenhausseelsorge, insofern sie verknüpft werden mit taktvollen, aber inhaltlich klaren Angeboten der Begegnung mit der christlichen Botschaft;

  • Bildungseinrichtungen, in denen Christinnen und Christen sich erkennbar machen und gezielte Angebote zur Begegnung eröffnen, z. B. in Kreisen von Schülerinnen und Schülern und von Studierenden, in der Evangelischen Erwachsenenbildung und in den Evangelischen Akademien. Hierher gehört auch das Zeugnis der Theologie an der staatlichen Universität durch Beteiligung am wissenschaftlichen Diskurs aus christlicher Verantwortung, aber auch durch ausdrückliche Angebote, das Evangelium kennen zu lernen, z. B. in Universitätsgottesdiensten und Hochschulevangelisationen;

  • Präsenz der Kirchen in den Medien (Funk und Fernsehen, Printmedien, Internet). Hier müssten die immer noch vorhandenen Chancen, in den Medien präsent zu sein, in Richtung auf eine evangelistische Medienverkündigung profiliert werden, d. h. es sollte darauf geachtet werden, dass Freiräume in den Medien tatsächlich mit elementarer, biblisch gegründeter und qualitativ hochwertiger, d. h. mediengerecht aufbereiteter Verkündigung genutzt werden.

  • Die nach dem 2. Weltkrieg entstandenen evangelischen Kommunitäten verbinden geistliche Tradition mit kritischer Teilnahme am gesellschaftlichen und kirchlichen Leben. Für viele Menschen sind sie Beispiele exemplarisch gelebten Christseins. Oft sind ihre Mitglieder auch direkt evangelistisch tätig.
Nächstes Kapitel