Die Geschichte des „O“

Ein „O“ gegen den Verlust der Weihnachtssehnsucht

Warum haben wir über weite Strecken unsere Weihnachtssehnsucht verloren? Weil wir zu wenig „O“ singen – meint der Amtsbereichsleiter der VELKD, Dr. Stephan Schaede.

Gelber Herrnhuter Stern im Baum

Ein gelber Herrnhuter Stern im Baum 

O – eines der kürzesten Worte der Welt ist ein Weihnachtswort. Dieses Wort hungert nach der Welt. Die Welt aber hungert kaum nach ihm. Das ist das Problem dieser Welt. Sie ist der Weihnachtssehnsucht dieses Os verlustig gegangen. Säkular geworden ist diese Welt nicht mehr in der Lage, auf Gott zu warten. Sie kann auf Gott nicht warten, weil sie sich von ihm nichts mehr erwartet. Dieser Adventsverlust trifft die Welt hart. Adventsverloren muss sie sich an der Realität des Augenblicks klammern.  Das ist brutal. Krieg, Krisen, Streit und Freude lediglich durch Gegenwartsbetäubung. Deshalb muss in diese Welt deutlich hörbar ein weihnachtliches O hineinschneien. Ganz geistlich „O Du fröhliche“ … und ganz weltlich „O Tannenbaum“. Natürlich auch ganz international: „O holy night …“  So kurz der Ausruf „O“ ist, läppisch ist er nicht. In ihm drückt sich eine vielschichtige Sehnsucht aus, die auch vermisst, was nicht da ist oder leider nicht der Fall ist. „O tempora, o mores“, „O was für Zeiten, was für Sitten“, beklagte Cicero gleich viermal in schwierigsten Zeiten den Verfall der politischen Sitten und drückte darin seine Sehnsucht nach republikanischen Ordnungen aus.  Auf den Titel „O Brother, Where Art Thou“ hört der Film der Coen-Brüder und beschreibt eine Odyssee im ländlichen Mississippi zur Zeit der großen Depression, Ausdruck einer Sehnsucht in miesen Zeiten endlich irgendwo irgendwie im Leben anzukommen.

Auf was also warten? Zauberhaft Auskunft gibt darüber eine über 1.000 Jahre währende
Gesangstradition. Jedes Jahr mit dem 17. Dezember erhebt sich in der katholischen Abendvesper ein O-Gesang. Sieben O-Antiphonen an der Zahl sind es. In einem sich immer stärker konzentrierenden abendlichen Zuflug auf den Heiligen Abend steigert sich Vesper für Vesper die Sehnsucht und zugleich die Vorfreude auf das Weihnachtsfest. Am Anfang jeweils ein staunender musikalischer Ausruf eines „O“. Dem folgen sieben dem Alten Testament abgelauschte Anrufungen, die den Messias und Retter Kontur geben: Weisheit Gottes, Herr, Spross aus der Wurzel Isais, Schlüssel Davids, Morgenstern, König der Völker, Emmanuel. Eine hinreißende Bilderwelt tut sich auf. Und in der drückt sich aus die Sehnsucht nach Weisheit, die von Anfang bis Ende die Geschichte begleite, die Menschheit zur Einsicht führe und so sicher durch schwierige Zeiten geleite. Die Sehnsucht nach einem Herrn, der als Fürst des Hauses Israel die unter sich zerstrittene Welt versöhne. Die Sehnsucht nach dem Spross aus der Wurzel Jesse, nämlich einer Retterpersönlichkeit, die, wie der Prophet Jesaja ansagt, nach abgründiger Zeit aus dem Baumstumpf des Hauses Davids entspringe und in die Freiheit führe.  Die Sehnsucht nach einem Schlüssel Davids, auch dies eine Anspielung auf das Jesajabuch, der Menschen aus leiblicher und seelischer Gefangenschaft befreie.  Die Sehnsucht nach einem Morgenlicht aus dem Osten, die Menschen, die für sich schwarzsehen, Lichtblicke eröffne. Die Sehnsucht nach einem König der Völker, der unter allen Menschen Friede und Versöhnung stifte. Die Sehnsucht nach einem Emmanuel, der als König und kluger Gesetzgeber die Menschen rette. Was sich da in gehobener Strophensprache zeigt, ist ganz elementar – dies: Gott, wir warten auf Dich. Und wir erwarten viel von Dir. Versöhnung, Freiheit, leibliche und seelische Heilung, Hoffnung, Friede und mehr lebensbiographische Klarheit für Individuen, Gruppen und ganze Bevölkerungszusammenhänge.  So einer soll kommen. Siebenmal erfolgt im Schlusssatz der O-Gesänge ein eindringliches „Komm“, „komm endlich“. Diese Gesänge laufen wie das Magnificat, das an jedem der sieben Abende vom 17. – 23. Dezember gesungen wird, auf Jesus Christus zu, ohne ihn ausdrücklich beim Namen zu nennen. Auch deshalb liegt auf ihnen eine Art vorweihnachtlich neugieriges Staunen. Wer allerdings aus lutherischer Perspektive mitsingt, wird womöglich an einer Stelle geistlich stocken und mit einem feinen „O“ zwischen den Zeilen innehalten. Denn sich von Jesus Christus als einem klugen Gesetzgeber Rettung zu erhoffen, das wäre jedenfalls Martin Luther, der auf den Spuren des Paulus unterwegs war, entschieden zu wenig gewesen. Luthers „O“-Antiphon würde wohl singen und sagen, dass Gott sich selbst höchstpersönlich mit seinem ganzen Leben in die vom alltäglichen und absurden Grauen geschüttelte Welt hineinbegeben muss, um sie als seine Welt durch sein eigenes Sterben und eine eigene Lebensrevolte zu retten.

So frage ich mich in dieser letzten Adventswoche, während ich den O-Antiphonen lausche: Hat Luther je ein solches O als Weihnachtswort zu Papier gebracht oder ausgerufen? Ich würde darum wetten. Allerdings weist das voluminöse Lutherregister der Weimarer Ausgabe, dass Luthers Sprachschatz bis in die hintersten Winkel verfolgt und ein mir lieber Gefährte geworden ist, eine empfindliche Lücke auf. Der Ausruf „O“ wurde vergessen.

Eine echte Weihnachtsaufgabe für Lutherforschende steht an, vielleicht zwischen den Jahren zu absolvieren, nämlich das Wörtchen O im Register zu ergänzen. Zu den Stärken der lutherischen Theologie zählt ja, all die ganz weltlichen und himmelstürzenden Dimensionen Gottes in Jesus Christus zum Ausdruck zu bringen, da ist mehr als Wurzel, Weisheit, Morgenstern, König oder Herr. Da sind Schmerz und Leid, Abgrund und Trauer, Einsamkeit und Verlust, Krise und Verzweiflung, die in Gott und von Gott gesehen und erlitten werden und die zugleich von einem sie besiegenden Jubel und Freude umfangen werden. „Das ewig Licht scheint da herein, gibt der Welt einen neuen Schein.“ Luthers großes gesangliches O … Es wird höchste Zeit, gerade in diesem verflixt schwierigen Jahr kraftvoll darin einzustimmen – hörbar für alle Welt, auf dass sie lebenshungriger werde!

Die Geschichte des „O“