Europa - Informationen Nr. 160

Neue Ansätze im Kampf mit der Hydra? Der Sachstand zu den Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn

Damian Patting

Obwohl die Art. 7-Verfahren gegen Polen und Ungarn nicht auf der Tagesordnung des Europäischen Rates am 21. und 22. März 2019 gestanden hatten, weil die Rumänische Ratspräsidentschaft in diesem Bereich keine signifikanten Entwicklungen festzustellen vermochte, hat das Thema dennoch die im Vorfeld des Gipfels tagenden Europäischen Außenminister auf ihrer Sitzung am 19. März 2019 umgetrieben. Angesichts derzeit laufender Art. 7-Verfahren gegen Polen und Ungarn (siehe dazu bereits Europa-Informationen Nr. 159) wurde die Idee, einen zusätzlichen Mechanismus zur gegenseitigen Evaluation der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wahrung rechtsstaatlicher Verhältnisse einzurichten, aufgegriffen. Die EU-Außenminister waren eingeladen, Impulse für die Einrichtung eines solchen Instrumentes zu setzen. Die Idee war schon bereits drei Jahre zuvor von dem belgischen Außenminister Didier Reynders aufgeworfen worden und wird auch durch den Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth, öffentlich gestützt. Ziel sei es, einen neuen politischen Mechanismus zu entwickeln, welcher vergleichbar mit dem Budget-Prozess für das Europäische Semester mit von den Mitgliedstaaten zu respektierenden Kriterien und länderspezifischen Empfehlungen verbunden werden kann, jedoch rechtlich nicht verankert ist. Die Idee, einen regulären Compliance-Rahmen zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu schaffen, könne einen wirkungsvollen Ansatz zur Überprüfung rechtsstaatlicher Verhältnisse darstellen. Dazu – so die Minister – gehöre insbesondere auch ein wirksames Vorgehen gegen antisemitische und anti-muslimische Tendenzen. Ein solcher informell und freiwillig ausgestalteter Mechanismus könne auch wirksamer dem (gegenüber dem Art. 7-Verfahren tatsächlich bestehenden) Vorwurf begegnen, es handele sich um ein Instrument der politischen Schikane des „Westens gegen den Osten“. Ob und wann ein derartiger Softlaw-Ansatz in Ergänzung zum harten Sanktionsmechanismus des Art. 7-Verfahrens eingerichtet werden könnte, ist derzeit aber noch offen.

Neue Impulse für Mechanismen, die breite Akzeptanz finden, sind angesichts der Verhältnisse in Ungarn und Polen zu begrüßen: In Bezug auf das Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn hatte das Europäische Parlament im Rahmen einer Entschließung am 12. September 2018 einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der Europäischen Union durch Ungarn gemäß den Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 EUV vorgelegt. In diesem Dokument wird der Regierung in Budapest vorgeworfen, den Rechtsstaat auszuhöhlen und Nichtregierungsorganisationen zu drangsalieren. 448 Mandatsträger sprachen sich bei nur 197 Gegenstimmen für Konsequenzen aus. Damit sind die EU-Mitgliedstaaten erstmals durch das Parlament – und nicht durch die Kommission – aufgefordert, sich für die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 7 Abs. 1 EUV auszusprechen. Seitens Ungarns habe zwar – so das EU-Parlament – „immer die Bereitschaft zu Erörterungen bestanden“, konkrete Maßnahmen in Fragen der Unabhängigkeit von Justiz, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gleichbehandlung und Minderheitenschutz seien jedoch ausgeblieben.

Hinsichtlich des laufenden Rechtsstaatsverfahrens gegen Polen entsprach die polnische Regierung den Anordnungen aus Brüssel und setzte zwangspensionierte Richter wieder in den Dienst. Nun richtet die EU-Kommission ihre kritische Aufmerksamkeit auf neu eingerichtete sog. Disziplinarkammern, die über solche Richter polnischer Gerichte Disziplinarmaßnahmen verhängen sollen, deren Urteile (juristisch) in Zweifel gezogen werden. Hier besteht der Verdacht, dass weniger juristische Mängel, als vielmehr die Konformität mit der politischen Linie der Regierungspartei zum Beurteilungsmaßstab gemacht werden könnte. Damit zeigt sich, dass in Polen das Rechtsstaatsverfahren zum jetzigen Zeitpunkt nur eingeschränkt zur Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen geführt hat. Der Kampf um rechtsstaatliche Verhältnisse scheint einem Kampf mit der Hydra zu gleichen: Schlägt man einen Kopf ab – wie mit dem Eil-Beschluss gegen Polen im Oktober 2018 geschehen – wachsen weitere Köpfe nach. Es ist zu hoffen, dass die vorstehend genannten informellen und von den Verträgen losgelösten Instrumente eine echte Chance bieten, die Bereitschaft zur Einsicht der beiden mittelosteuropäischen Staaten zu verbessern und auch in den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zur vornehmsten Staatszielbestimmung zu machen.

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