Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft

1 Einführung: Anlass

Ausführliche Fassung

(1) Die Krise der Landwirtschaft, die seit langem diskutiert wird, hat sich im vergangenen Jahrzehnt dramatisch zugespitzt. Eine Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft steht dringend an. Angesichts der Komplexität der Probleme besteht die Gefahr, dass an die Stelle einer nüchternen Bestandsaufnahme und einer von der ganzen Gesellschaft mitgetragenen Reform ein Abtausch von Schlagwörtern tritt und das Thema wieder von der Tagesordnung verdrängt wird. Aufgrund ihrer besonderen Nähe zur Natur ist die Landwirtschaft in besonderer Weise für die Schöpfung verantwortlich. Zur nachhaltigen Sicherung der Lebensgrundlagen sowie der weltweiten Ernährung sind Reformen unverzichtbar. Die christlichen Kirchen haben deshalb in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Beiträge für eine nachhaltige und sozial gerechte Ordnung der Landwirtschaft vorgelegt.(4) Es ist die Absicht des vorliegenden Diskussionsbeitrages, eine breite Willensbildung innerhalb der Kirchen und in der Gesellschaft zu fördern. Damit soll zugleich der Konsultationsprozess der Kirchen zum Gemeinsamen Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) aufgenommen und weitergeführt werden.

(2) Es wäre falsch und ungerecht, die Krise allein den in der Landwirtschaft tätigen Menschen anzulasten. Zunächst tragen sie die Hauptlast der Folgen. Kurzfristig gibt es Gewinner und Verlierer der Krise, langfristig sitzen aber die in der Landwirtschaft Tätigen, die Verbraucher und das Ernährungshandwerk im gleichen Boot. Es handelt sich um ein vielschichtiges und umfassendes Problem, das nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Solidarität gelöst werden kann. Solidarität schließt die kritische Unterstützung bei der Suche nach neuen, nachhaltigen Wegen der Landwirtschaftsentwicklung ein. Diese Solidarität muss sich nicht nur in der Politik bewähren, sondern ebenso im Verhalten aller Verbraucher, die mit ihrer Nachfrage nach Lebensmitteln aus umweltschonender Produktion, artgerechter Tierhaltung und regionaler Herkunft die in der Landwirtschaft Tätigen unterstützen können und damit eine ethische Mitverantwortung für die Produkte und Produktionsmethoden tragen. Die Zeit drängt, wenn die Sicherung der weltweiten Ernährung gewährleistet und die Vielfalt der Arten und Lebensräume sowie der traditionellen Kulturlandschaft bewahrt werden sollen.

(3) Über die allgemeinen Zielsetzungen für eine nachhaltige Agrarpolitik besteht in großen Teilen der Bevölkerung Einigkeit. Es geht um

  • die weltweite Sicherung einer ausreichenden Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen Produkten zu angemessenen Preisen;

  • die Erhaltung und Förderung selbständiger, wettbewerbsfähiger landwirtschaftlicher Betriebe bei einer breiten Streuung des Bodeneigentums in einem umweltfreundlichen sozialen Verpflichtungsrahmen;

  • die angemessene Beteiligung der Land- und Forstwirtschaft an der Entwicklung des allgemeinen Einkommens;

  • eine schonende Nutzung der Schöpfung zur langfristigen Bewahrung der Funktionstüchtigkeit örtlicher Naturhaushalte einschließlich der Bodengesundheit, Wasserqualität und klimatischen Stabilisierung;

  • einen verantwortlichen artgerechten Umgang mit der Tierwelt;

  • die Aufrechterhaltung einer tragfähigen Besiedlungsstruktur in den ländlichen Räumen und die Erhaltung eines vielfältig gegliederten Landschaftsbildes;

  • glaubwürdige Beiträge zur Lösung der Welternährungsprobleme und zu einer gerechten Gestaltung der agrarwirtschaftlichen Außenbeziehungen.

(4) Im Blick auf die Bedeutung und Konkretisierung dieser Ziele muss angesichts vielfältiger Widerstände ein tragfähiger gesellschaftlicher Konsens erst noch gefunden werden. Ein solcher Konsens ist insbesondere deshalb dringend erforderlich, weil sich die internationalen und regionalen Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahrzehnten einschneidend verändert haben und die Gestaltungsspielräume für eine nachhaltige Landwirtschaft unter sich wandelnden Bedingungen nur in einer breiten gesellschaftlichen Kooperation erschlossen und erhalten werden können: Agrarpolitik findet heute nicht mehr ohne die Europäische Union statt; die heimische Landwirtschaft ist eng verflochten mit den Weltagrarmärkten; große Herausforderungen hat die Zusammenführung der ostdeutschen und der westdeutschen Agrarstrukturen nach der Vereinigung 1989 mit sich gebracht; die bevorstehende Osterweiterung der EU betrifft den Agrarsektor stärker als alle anderen Wirtschaftszweige. Auch das hohe Tempo der technischen Innovationen (z. B. grüne Gentechnik) führt zu tiefgreifenden Veränderungen, über die ein gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden sollte.

(5) Da es der Landwirtschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht möglich ist, die genannten Ziele zu erreichen, müssen sich Gesellschaft und Politik in den nächsten Jahren entscheiden, welche Art der Förderung sie gewähren wollen, welche Leistungen sie über die Nahrungsmittelproduktion hinaus von der Landwirtschaft erwarten und welche Mittel und welchen ordnungspolitischen Rahmen sie dafür bereit stellen wollen. Es geht um langfristig folgenreiche Entscheidungen, die eine gesamtgesellschaftliche Verständigung über die ethischen Ziele und Prioritäten voraussetzen.

(6) In der Aktualisierung und Weiterführung eigener kirchlicher Beiträge will der hier vorgelegte Diskussionsbeitrag einige grundlegende Wertorientierungen in die Diskussion einbringen, Denkanstöße für die dringend erforderliche Neuordnung der Landwirtschaft geben und Verantwortung in Politik und Gesellschaft anmahnen. Er will den in der Landwirtschaft Tätigen Mut machen, Verständnis für die Sorgen und Nöte der bäuerlichen Familien in der Bevölkerung fördern und manche Verbrauchergewohnheiten im Umgang mit Lebensmitteln in Frage stellen. Er ruft Christinnen und Christen in ihren privaten, beruflichen und kirchlichen Handlungsfeldern zu einem reflektierten und wirkungsvollen Engagement auf. Er richtet sich in besonderer Weise an die Verantwortlichen in der Politik. Die EU-Agrarpolitik ist 1992 und im Rahmen der Agenda 2000 reformiert worden, indem die Preisstützung auf wichtigen Agrarmärkten abgebaut und flächen- bzw. tierbezogene Ausgleichszahlungen eingeführt wurden. Die Maßnahmen der ländlichen Entwicklung und zur Förderung der Umwelt wurden in einer 2. Säule der Agrarpolitik gebündelt. Mit dem Agenda-Beschluss wurde auch der Finanzrahmen für die Agrarpolitik von 2000 bis 2006 festgelegt. Gemäß Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom März 1999 sollten im Jahr 2003 die Marktordnungen sowie die Agrarausgaben der EU einer Halbzeitbilanz (mid-term-review) unterzogen werden. Die anstehende Halbzeitbilanz sollte zum Anlass genommen werden, eine grundlegende Neuausrichtung der EU-Agrarpolitik an veränderte Rahmenbedingungen einzuleiten, die in eine umfassende Reform der europäischen Agrarpolitik münden und möglichst viele Marktordnungen einbeziehen soll.

Fussnoten:

(4)  Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben bereits seit Beginn der 80er Jahre immer wieder Beiträge für eine Neuorientierung der Landwirtschaft vorgelegt, z. B. die Denkschrift der EKD „Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluss“ (Gütersloh 1984, 7. Auflage 1987), das Wort der deutschen Bischöfe „Zur Lage der Landwirtschaft“ (Bonn 1989), Erklärung der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der deutschen Bischöfe „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“ (Bonn 1998) oder die Studie der Kammer für Entwicklung und Umwelt der Evangelischen Kirche in Deutschland „Ernährungssicherung und Nachhaltige Entwicklung“ (Hannover 2000).

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