Verantwortung und Weitsicht.
Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Reform der Alterssicherung in Deutschland, Gemeinsame Texte 16, 2000
8. Eine zukunftsweisende Reform ist möglich - Ausblick
Aufgrund der vorgeschlagenen Maßnahmen ist zu erwarten, daß die Steigerungen der Renten hinter denen der Erwerbseinkommen zurückbleiben werden, wenn die künftige erwerbstätige Generation nicht einseitig belastet werden soll. Deshalb ist der weitere Ausbau von Ergänzungssystemen neben der Gesetzlichen Rentenversicherung unumgänglich, um dem Ziel der Lebensstandardsicherung auch in Zukunft möglichst nahe zu kommen. Hier geht es vor allem um die berufsbezogene Sicherung und die private Eigenvorsorge.
In der internationalen Diskussion um die Gestaltung der Alterssicherung wird zwischen der solidarischen Kernsicherung (1. Säule), der betrieblichen Sicherung (2. Säule) und der privaten Eigenvorsorge (3. Säule) unterschieden. In vielen Ländern machen berufliche und private Formen der Altersvorsorge einen wesentlich größeren Anteil an der gesamten Altersvorsorge aus als in Deutschland. Vor allem die zweite Säule, die berufsbezogene Sicherung, ist (mit Ausnahme der berufsständischen Versorgungswerke für die freien Berufe und der Zusatzversorgungskassen im öffentlichen Dienst) in Deutschland wenig entwickelt. Veränderte steuerliche Auflagen des Gesetzgebers und Auslegungen der Rechtsprechung haben eine starke Einschränkung der Zusagen für die betriebliche Altersvorsorge bewirkt. Hinzu kommt, daß die hohen Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung wenig Spielraum für Eigenvorsorge lassen.
Im Bereich der ergänzenden Alterssicherung ist Augenmaß hinsichtlich des Verhältnisses von staatlicher Regulierung und individueller bzw. betrieblicher Gestaltungsfreiheit in besonderem Maße gefordert. Grundsätzlich sollte es den Menschen freigestellt sein, in welcher Weise sie unter Berücksichtigung ihrer beruflichen Umstände für ihr Alter vorsorgen. Auch die Betriebe sollten in der Gestaltung ihrer Vorsorgemaßnahmen möglichst wenig eingeschränkt werden. Aufgaben des Staates ergeben sich hier vor allem in zweierlei Hinsicht:
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Private Vorsorge
Der privaten Eigenvorsorge kommt eine zunehmende Bedeutung zu. Sie muß verstärkt werden. Kapitalfinanzierte Formen der Altersvorsorge ergänzen nicht nur die Sicherung des Lebensstandards im Alter, sie geben auch den einzelnen mehr Freiheit und Flexibilität. Daher ist es um so wichtiger, durch strukturelle Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung einen entsprechenden Raum für zusätzliche Eigenvorsorge zu schaffen. Nicht wenige Erwerbstätige haben schon seit Jahren damit begonnen, eine private Eigenvorsorge aufzubauen. Jede Förderung dauerhafter Vermögensbildung ist auch ein Beitrag zu Alterssicherung. Allerdings erhöht eine zusätzliche kapitalfinanzierte Altersvorsorge wirtschaftlich gesehen die Beitragsbelastung, da neben den Beiträgen zur kapitalgedeckten Alterssicherung auch die Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung aufgebracht werden müssen. Kapitalgedeckte Altersvorsorge ist auch nicht ohne Risiken, denn Kurse und Kapitalrenditen der Anlage schwanken. Langfristig gute Anlagemöglichkeiten sind nicht garantiert.Vor allem jüngere Menschen neigen dazu, die Bedeutung der Altersvorsorge zu unterschätzen. Je früher sie aber mit eigener Vorsorge für das Alter beginnen, desto höher ist der kapitalbildende Effekt von Vorsorgemaßnahmen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, unter bestimmten Voraussetzungen und in beschränktem Umfange eine private Vorsorgepflicht der Erwerbstätigen gesetzlich vorzusehen. Eine solche Vorsorge müßte so gestaltet sein, daß der einzelne selbst entscheiden kann, in welchen Bereichen - privat oder betrieblich - er vorsorgt. Die steuerliche Förderung von Altersvorsorgemaßnahmen müßte ausgebaut werden. Die bewußte Stärkung von privater Vorsorge ist ohne steuerliche Förderung nicht möglich. Für Geringverdienende müßte eine zusätzliche staatliche Förderung bis zu einer bestimmten Höhe vorgesehen werden.
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Betriebliche Vorsorge
Die betriebliche Alterssicherung als zweite Säule muß künftig eine größere Bedeutung erlangen. Die Betriebe müssen zur Wahrnehmung ihrer Mitverantwortung für die Alterssicherung ihrer Beschäftigten angehalten werden. Dies entspräche der Einsicht, daß Alterssicherung eine gemeinsame Aufgabe in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat ist. Es sollten daher Maßnahmen getroffen werden, die den Betrieben ein Engagement bei der betrieblichen Mitverantwortung für die Alterssicherung dringend nahelegen. Die steuerlichen Rahmenbedingungen müssen so ausgestaltet werden, daß die Betriebe - unter ihnen vor allem auch die klein- und mittelständischen Betriebe - ihre Mitverantwortung auch wahrnehmen können. Dabei ist die Gesamtabgabenlast der Betriebe und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit im Blick zu halten. Betriebliche Vorsorge funktioniert in der Regel gut bei qualifizierten Personen, die in einem Großbetrieb mit festem Normalarbeitsvertrag arbeiten. Niedrigqualifizierte, Arbeitnehmer in mittelständischen Betrieben und Kleinbetrieben und vor allem auch weibliche Arbeitnehmer haben oftmals nicht die Möglichkeit zum Aufbau einer betrieblichen Komponente ihrer Alterssicherung. Daher ist es wichtig, durch Anreize vor allem die diesbezüglich klassisch benachteiligten Gruppen beim Aufbau ihrer betrieblichen Altersvorsorge nachdrücklich zu unterstützen.
Es gibt viele Gestaltungsmöglichkeiten. Eine Ausweitung der betrieblichen Altersvorsorge bietet den Betrieben und den Begünstigten die Möglichkeit, betriebliche Leistungen wie zum Beispiel Überstunden, Gewinnbeteiligungen, Weihnachtsgeld usw. im Rahmen betrieblicher Vereinbarungen einzubringen. Eine solche Flexibilisierung der betrieblichen Altersvorsorge geht bewußt davon aus, daß alle angewachsenen Zusagen bei einem Betriebswechsel mit dem Arbeitnehmer auf den neuen arbeitgebenden Betrieb übergehen beziehungsweise daß die erworbenen Anwartschaften nach Auflösung eines Arbeitsverhältnisses der oder dem Begünstigten in voller Höhe erhalten bleiben.
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Die Verknüpfung von privater und betrieblicher Vorsorge im Investivlohn
Die beiden Säulen der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge müssen im Zusammenhang gesehen werden. Elemente der Eigenvorsorge und der beruflichen Vorsorge lassen sich in der Form des Investivlohns verbinden. Bei der Vermögensbildung im Produktivvermögen gibt es in Deutschland noch erhebliche Probleme. Im Gemeinsamen Wort der Kirchen "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" heißt es dazu: "Die Kirchen setzen sich (...) seit langem für eine gerechtere und gleichmäßigere Verteilung des Eigentums und nicht zuletzt für eine verstärkte Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen ein. Das Ziel einer sozial ausgewogeneren und gerechteren Vermögensverteilung in Deutschland ist bei weitem nicht erreicht." (Ziff. 216)
Zu denken ist hierbei an Modelle, die zwischen den Sozialpartnern vereinbart werden und die betriebliche Sozialleistungen und/oder Lohn- und Gehaltserhöhungen in Beteiligungen am Unternehmensvermögen umzuwandeln. Auch Zeitguthaben aus übertariflichen Arbeitsleistungen lassen sich so honorieren. Gegenüber der Vermögensbildung in der Form von Produktivvermögen gibt es in Deutschland noch erhebliche Vorbehalte. Ohne entschlossene Fördermaßnahmen wird sich jedoch die Vermögenskonzentration in der Bundesrepublik fortsetzen. Aus diesem Grund soll die Beteiligung am Produktivvermögen mit Blick auf alle Kreise der Bevölkerung aktiv betrachten werden.