Das Ringen um die Solidarität: Umverteilung von Flüchtlingen in Europa

(Julia Maria Eichler)

Am 22. September 2015 einigten sich die Innenminister nach zwei außerordentlichen Sitzungen innerhalb von acht Tagen auf die Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen. Von Einigkeit jedoch keine Spur. Es entschied eine qualifizierte Mehrheit mit vier Gegenstimmen.

Insgesamt sollen nun 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien innerhalb der nächsten zwei Jahre umverteilt werden. Zusätzlich beschlossen die Innenminister bereits am 20. Juli 2015 die Neuansiedlung von 22.504 Flüchtlingen von außerhalb Europas. Dass es bis zur endgültigen Entscheidung für die Umverteilung drei Treffen der Innenminister und einen Europäischen Rat gebraucht hat, ist für Europa blamabel.

Die Europäische Kommission hatte, wie in der Europäischen Migrationsagenda (EKD-Europa-Informationen Nr. 148) angekündigt, am 27. Mai 2015 einen Vorschlag für einen verbindlichen Verteilungsschlüssel für die Umsiedlung von 40.000 Asylantragsstellern, die eindeutig internationalen Schutz benötigen, zur Entlastung Italiens und Griechenlands, vorgelegt. Die auf Art. 78 Abs. 3  des Vertrags über die Arbeitsweisen der Europäischen Union (AEUV) basierende Notumsiedlung sieht vor, dass in den nächsten zwei Jahren aus Italien 24.000 und aus Griechenland 16.000 Flüchtlinge in die restlichen Mitgliedstaaten der EU umgesiedelt werden sollen. Dies entspricht etwa 40 % aller Antragsteller, die 2014 irregulär in diese beiden Länder eingereist waren und eindeutig internationalen Schutz benötigten. Eindeutig internationalen Schutz benötigen nach Auffassung der EU-Kommission Personen, die aus Staaten kommen, bei denen die Anerkennungsrate von Asylanträgen in erster Instanz in der EU mindestens 75 % beträgt, wie Syrien, Eritrea, Irak oder Somalia. Für jeden Flüchtling soll der aufnehmende Mitgliedstaat 6.000 € erhalten. Darüber hinaus hatte die Kommission in der Migrationsagenda die freiwillige Neuansiedlung von 20.000 Flüchtlingen von außerhalb Europas innerhalb der nächsten zwei Jahre vorgeschlagen.

Doch schon die ersten Reaktionen auf die Vorschläge der EU-Kommission vor allem aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten und Großbritannien ließen befürchten, dass die im Ministerrat notwendige qualifizierte Mehrheit nicht zustandekommen würde.

In einer kontroversen fünfstündigen Diskussion, die am 25. Juni 2015 im Europäischen Rat folgte, trafen dann die unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten aufeinander. Ein Teil der Mitgliedstaaten forderte die lediglich freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Mitgliedstaaten, da dies eine Frage der Souveränität der Mitgliedstaaten sei. Die Staats- und Regierungschefs bekannten sich in ihren Schlussfolgerungen schließlich dazu, dass sich alle Mitgliedstaaten – bis auf Großbritannien – an der vorübergehenden und ausnahmsweisen Umsiedlung von 40.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland in den nächsten zwei Jahren beteiligen würden. Über die entsprechende Verteilung sollte sich der Innenministerrat bis Ende Juli „einvernehmlich“ einigen.

Doch auch bei dem Treffen des Ministerrats am 20. Juli 2015 war von Solidarität zwischen den 28 Mitgliedstaaten, wie man sie seit Monaten beschwört, nichts zu spüren. Während bereits seit Anfang Juli klar war, dass Ungarn, aufgrund der hohen Anzahl von Migranten vom Balkan im Jahr 2015 keine Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufnehmen würde, stellte sich überraschend auch Österreich quer. Großbritannien und Dänemark nutzen ihre Ausnahmeregeln im Bereich der europäischen Asylpolitik (Opt-in bzw. Opt-out). Die restlichen Mitgliedstaaten sagten die Aufnahmen von insgesamt 32.256 Flüchtlingen zu. Das geplante Ziel von 40.000 Plätzen verpasste der Ministerrat damit deutlich.

Dabei darf man den Blick nicht nur nach Osteuropa richten, sondern auch Länder wie Portugal und Spanien blieben deutlich hinter den von der EU-Kommission via Verteilungsschlüssel vorgesehen Zahlen zurück. Länder wie Deutschland, Frankreich, Schweden, Belgien, aber auch Rumänien hingegen, erklärten sich bereit, mehr Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen, als nach dem verbindlichen Verteilungsschlüssel vorgesehen. Auch Irland, dem im Bereich der europäischen Asylpolitik wie Großbritannien ein „Opt-in“ zusteht, erklärte sich zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit.

Dass bei der Neuansiedlung die geforderten 20.000 Plätze um 2.504 Plätze übertroffen wurden, kann man als Erfolg werten. Man darf aber auch hier nicht übersehen, dass diese Zahl nur mit Hilfe der assoziierten Länder Schweiz, Island, Norwegen und Liechtenstein, die insgesamt über 4.000 Plätze zur Verfügung stellten, erreicht wurde. Aufschlussreich ist aber, dass Dänemark und Großbritannien sich an der Neuansiedlung beteiligten. Dänemark übertraf dabei die von der Kommission vorgegebene Quote um fast das Dreifache. Nach diesem ersten Schritt sollten die etwas weniger als 8.000 fehlenden Umsiedlungsplätze nun bis Ende des Jahres noch eingeworben werden.

Nachdem sich die Lage im August/September 2015 zuspitzte, legte die Europäische Kommission trotz des ersten Misserfolgs nochmal nach. Am 09. September veröffentlichte sie einen weiteren Vorschlag für die Umverteilung weiterer 120.000 Flüchtlinge. Diesmal sollte neben Italien und Griechenland auch Ungarn profitieren (siehe auch Leitartikel).
Der außerordentliche Innenministerrat vom 14. September brachte jedoch keinen Durchbruch. Lediglich auf den Vorschlag vom 27. Mai, der die Umsiedlung der 40.000 Flüchtlinge betraf, konnte man sich diesmal verbindlich einigen. Die Zerstrittenheit innerhalb des Ministerrates in Anbetracht dieser geringen Zahlen wurde offensichtlich. Ungarn, das eigentlich von der Umverteilung von 54.000 Flüchtlingen profitieren sollte, verweigerte sich auch dieser Maßnahme. Von diesen 54.000 Umsiedlungsplätzen sollen nun Italien und Griechenland oder, je nach aktueller Entwicklung, andere Mitgliedstaaten, die unter Druck stehen, profitieren.

Ein deutliches Ausrufezeichen setzte dagegen das Europäische Parlament. Nachdem das Parlament, dass bei der Notfallumverteilung nur angehört wird, bereits am 09. September 2015 mit großer Mehrheit einem Bericht der Grünen Abgeordneten Ska Keller annahm, der sich für einen bindenden Schlüssel für die Notfallumsiedlung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland aussprach, entschied es über den zweiten Vorschlag der Kommission bezüglich der Umverteilung von 120.000 Flüchtlinge im Dringlichkeitsverfahren am 17. September und stimmte diesen ohne Änderungen zu, um eine möglichst schnellen Beschluss im Ministerrat zu erreichen. Die Kommission war dabei mit ihrem zweiten Vorschlag den Forderungen des Parlaments entgegen gekommen, mehr Flüchtlinge aus Italien und Griechenland umzusiedeln und bei der Umverteilung Kriterien wie bestehende Familien- oder soziale Bindungen mit einem Mitgliedstaat oder Sprachfähigkeiten zu berücksichtigen.
 
Die nun getroffene Entscheidung zur Umverteilung wird nichts an den Herausforderungen, denen sich die EU stellen muss, ändern. Vielmehr ist sie ein Symbol – für Griechenland und Italien, dass sie nicht allein gelassen werden und für Deutschland, dass auch der Rest Europas bereits ist, Verantwortung zu übernehmen. Dass es dafür eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat bedürfte – der normalerweise einstimmig beschließt – wird sicher nicht ohne Folgen sein. Die längerfristigen Reaktionen aus Tschechien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn, die gegen die Umverteilung stimmten, bleiben abzuwarten.

Auch wenn sich die Kommission und das Parlament mit einer verpflichtenden Quote nicht durchsetzen konnten, dürfte die enge Zusammenarbeit zwischen den beiden noch entscheidend sein, wenn die Kommission wie bisher geplant, Ende des Jahres einen dauerhaften Verteilungsschlüssel für die Umverteilung von Flüchtlingen im Falle eines Massenzustroms vorlegen sollte. Das Parlament wäre dann Mitgesetzgeber und müsste dem Vorschlag zustimmen.


Vielleicht ist die Entscheidung im Ministerrat aber auch ein Zeichen, dass die Mitgliedstaaten, die bereit sind mehr zu tun, nun vorangehen. Die Realität, dass weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Kriegen, Konflikten und Verfolgung sind, scheint sich jedenfalls noch nicht bei allen Mitgliedstaaten verfestigt zu haben. Dass sich die EU mit dem kleinen Bruchteil, der von diesen Flüchtlingen in Europa ankommt, so schwer tut, wird dem Anspruch einer Wertgemeinschaft nicht gerecht.

Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates finden Sie hier:
http://ekd.be/EU-Rat-Migration

Die Schlussfolgerungen des Ministerrates finden Sie hier:
http://ekd.be/Ministerrat_14-09-2015
http://ekd.be/Ministerrat_22-09-2015

Die Entschließungen des Europäischen Parlaments finden Sie hier:
http://ekd.be/Parlament-Migration
http://ekd.be/Intern_Schutz_IT-GR

Die Vorschläge der Kommission finden Sie hier:
http://ekd.be/EU-Agenda_on_Migration



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