„Wir schaffen das“ - oder doch nicht? - Flüchtlingsfrage stellt Europa vor Bewährungsprobe

(Katrin Hatzinger)

In seiner Rede zur Lage der Union am 9. September 2015 im Europäischen Parlament in Straßburg redete EU-Kommissionspräsident Juncker nicht lange um den heißen Brei herum. Der Zustand der Europäischen Union sei schlecht. Es fehle an Europa in dieser Union, es fehle an Union in dieser Union.

Wenige Tage später sollte sich diese ernüchternde Analyse bestätigen, als die europäischen Innenminister am 14. September nach ihrem Sondergipfel zur Flüchtlingskrise in Brüssel unverrichteter Dinge wieder in die europäischen Hauptstädte zurückkehrten. Zwar einigten sie sich grundsätzlich auf die Aufnahme und Verteilung von 40 000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland (siehe auch nachfolgender Artikel), doch der weitergehende Vorschlag der EU-Kommission vom 9. September im Zuge der Notfallmaßnahmen zusätzlich 120 000 Flüchtlinge aus besonders belasteten EU-Staaten (Italien, Griechenland und Ungarn) über eine feste Quote umzusiedeln, konnte nicht auf den Weg gebracht werden. Dabei ist die Zahl von 120 000 Flüchtlingen für die gesamte EU eine verschwindend geringe Zahl, auch im Vergleich mit Ländern wie der Türkei, Jordanien oder Libanon, die 100 000ende syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben.

Zwar sei man sich grundsätzlich über die Umverteilung der 120 000 einig, allerdings sei noch nicht klar, welches Land wie viele Menschen aufnehmen wird. Angesichts der tausenden von hilfesuchenden Menschen an der ungarisch-serbischen Grenze war die zögerliche Haltung der europäischen Innenminister ein weiteres Signal politischer Hilflosigkeit und Zerstrittenheit.

„Einfache Antworten könne es in der derzeitigen Lange nicht geben“, betonte der Vorsitzende des Rates der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der unmittelbar nach seiner Reise nach Ungarn und Serbien am 15. September 2016 in Brüssel mit dem EU-Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker, zusammen traf. Eine Kriminalisierung von Flüchtlingen und eine weitere Abschottung Europa durch Stacheldraht und Militär könnten nicht der richtige Weg sein. Dieses Vorgehen würde das Geschäft der Schlepper nur noch lukrativer machen und stehe eindeutig im Widerspruch zum christlichen Gebot der Nächstenliebe. Klar sei aber auch, dass die Herausforderungen nur gemeinsam europäisch und nicht durch nationale Alleingänge oder gegenseitige Schuldzuweisungen zu lösen sei.

Doch momentan zeigen sich die Mitgliedstaaten zerstritten. Gerade die sog. Visegard-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei) stehen einer verbindlichen Quote ablehnend gegenüber. Mal mehr mal weniger direkt warnen Spitzenpolitiker aus den Ländern vor der drohenden Islamisierung ihrer Länder durch die muslimischen Flüchtlinge aus Syrien. Wenig hilfreich waren in dieser Situation auch öffentliche Drohungen, wie die des deutschen Innenministers, angesichts des „unsoldidarischen Verhaltens“ der ost- und mitteleuropäischen Länder, Gelder aus den EU-Strukturfonds einfrieren zu wollen, sollten sie sich nicht bei der Aufnahme engagieren.

Auch wenn sich die europäischen Innenminister am 22. September schliesslich darauf einigen konnten; 120 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in der EU umzuverteilen, geht ein Riss durch Europa. Vier Staaten (Ungarn, Rumänien? Tschechien und die Slowakei) stimmten dagegen: Auf Wunsch von Kanzlerin Merkel und dem österreichischen Regierungschef Faymann soll ein Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs am 23. September 2015 in Brüssel die festgefahrene Situation aufbrechen und eine europäische Lösung ermöglichen.

Doch von einem gesamteuropäischen Ansatz sind wir derzeit immernoch weit entfernt. Dabei hatte Präsident Juncker in seiner viel beachteten Rede vom 9. September gemahnt, dass es „höchste Zeit sei, zu handeln, um die Flüchtlingskrise zu managen“. Konkret schlug er folgende Punkte vor:

  1. Die Regeln und Standards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems müssten umfassend angewandt werden. Da dies aber nicht in allen Mitgliedstaaten der Fall sei, plane die Kommission, weitere Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Zudem veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung über die öffentliche Auftragsvergabe in der Flüchtlingshilfe. Diese soll den Behörden auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene Leitlinien an die Hand geben, wie sie solche Dienste einfach, rasch und unbürokratisch unter Beachtung der Vergabevorschriften der EU bereitstellen können.
  2. Ausbau der derzeitige Notfallumverteilung von 40.000 Flüchtlingen in der EU auf 160.000 Flüchtlinge: Die Umverteilung soll nach einem verbindlichen Verteilungsschlüssel erfolgen. Kann sich ein Mitgliedstaat aus triftigen, objektiven Gründen – z. B. wegen einer Naturkatastrophe – vorübergehend nicht an dem verbindlichen Solidaritätsmechanismus oder dem Notumsiedlungsmechanismus beteiligen, muss er einen finanziellen Beitrag zum EU-Haushalt in Höhe von 0,002 % seines BIP leisten. Dabei sollen auch die Bedürfnisse der Asylsuchenden, Sprachkenntnisse und beruflichen Fertigkeiten sowie andere Kriterien wie nachgewiesene familiäre, kulturelle oder soziale Bindungen berücksichtigt werden. Der erste Versuch der Kommission, im Mai 2015 eine verpflichtende Umsiedlung nach festen Verteilungsschlüssel durchzusetzen, war am Widerstand einiger Mitgliedstaaten gescheitert, die sich nur zu einer freiwilligen Umverteilung bereit erklärten (siehe nachfolgender Artikel).
  3. Die Kommission möchte die Organisation der Rückkehr/Rückführung effektiver gestalten. Um die diesbezüglichen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten zu verbessern, hat die Kommission ein Handbuch zum Thema Rückkehr/Rückführung und einen EU-Aktionsplan herausgegeben.
  4. Die Kommission wird einen Vorschlag für eine europäische Liste sicherer Herkunftsstaaten vorlegen. Diese soll alle EU-Beitrittskandidaten sowie potentielle Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan umfassen. Aufgenommen werden sollen Albanien, Bosnien und Herzegowina, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Kosovo, Montenegro, Serbien und die Türkei. Letzteres ist aber höchst umstritten.
  5. Europa müsse sich außenpolitisch – vor allem in Syrien und Libyen- stärker einbringen. Für die Sahelzone, die Tschadseeregion, das Horn von Afrika und Nordafrika soll ein 1,8 Milliarden Euro schwerer Treuhandfond aufgelegt werden, um zur dauerhaften Stabilität beizutragen.
  6. Europa müsse sichere und kontrollierte Routen nach Europa schaffen, um Flüchtlingen helfen zu können und gleichzeitig die Schleuser zu bekämpfen. Die Kommission wird einen Vorschlag für ein dauerhaftes europäisches Neuansiedlungsprogramm vorlegen. Zusätzlich ist für Anfang 2016 ein Gesetzespaket zur legalen Zuwanderung vorgesehen.
  7. Frontex soll erheblich gestärkt und zu einer voll funktionsfähigen europäischen Grenz- und Küstenschutzbehörde ausgebaut werden.
     

Während die Notfallumsiedlung als Ausdruck europäischer Solidarität ebenso begrüßenswert ist, wie ein Afrika-Treuhandfonds, sind andere Vorschläge wie der einer europäischen Liste sicherer Herkunftsstaaten kritisch zu bewerten. Schon in der Vergangenheit haben sich die EU-Mitgliedstaaten nicht auf eine solche Liste, die sicherlich keine europäische Lösung für die Flüchtlingskrise ist, einigen können.

Daneben werden immer mehr Rufe nach der Errichtung sog. „Hotspots“ laut. In diesen Registrierungszentren an den EU-Außengrenzen soll die Schutzbedürftigkeit der ankommenden Menschen geprüft und Migranten an der Weiterreise gehindert werden. Das Anliegen der Mitgliedstaaten ist nachvollziehbar, doch es mehren sich die Stimmen, wonach „Hotspots“ auch außerhalb der EU in Ländern wie Serbien oder der Türkei eingerichtet werden sollten. Hier besteht die Gefahr, dass europarechtliche Standards auf der Strecke bleiben und Schutzbedürftige abgeschoben werden. Angebracht wäre vielmehr eine umfassende finanzielle und logistische Unterstützung der EU-Nachbarn, die derzeit die Hauptlasten tragen.

Die politische Sprengkraft, die in der derzeitigen Flüchtlingskrise steckt, sollte nicht unterschätzt werden. Angesichts der Anzahl der ankommenden Menschen, des Unwillens und der Überforderung vieler Mitgliedstaaten und der unterschiedlichen Interessenlagen steht ein Grundpfeiler der europäischen Integration, wie das Schengensystem, das den Menschen innerhalb der EU Freizügigkeit garantiert, zur Disposition. Grenzkontrollen innerhalb der EU werden als Drohkulisse allenthalben wieder eingeführt, Misstrauen und Vorurteile gegen europäische Nachbarn wieder salonfähig gemacht. Insgesamt zeigt sich, dass es um Schlüsselfragen der europäischen Zukunft geht, die das Fundament der EU betreffen.

Bei einem Termin mit Pressevertretern in Brüssel warnte der Vorsitzende des Rates Bedford-Strohm am 9. September davor, in der Krise durch Stereotypen vom deutschen Gutmenschen oder vom ausländerfeindlichen Ungarn, den Zusammenhalt in Europa zu gefährden. Er zeigte sich dankbar und berührt von dem vielfältigen ehrenamtlichen Einsatz für die Flüchtlinge, nicht nur in Deutschland. Auf seiner jüngsten Reise nach Ungarn und Serbien, habe er aus der Zivilgesellschaft viel Hilfsbereitschaft und Offenheit erlebt. Auf diesen guten Willen gelte es aufzubauen, ohne die Staaten aus ihrer Verantwortung zu entlassen.

Frau Merkel hat also recht, wenn sie im Hinblick auf gemeinsames Handeln in der EU betont: „Wir können das schaffen, und wir schaffen das“. Viele in der EU schauen auf Deutschland. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass die Flüchtlingskrise uns auch deshalb derzeit vor solche Herausforderungen stellt, weil die EU-Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, jahrelang die Augen vor dem Scheitern des Dublin-Systems verschlossen und sämtliche Initiativen der EU-Kommission ausgebremst haben, das Zuständigkeitssystem zu reformieren.

Die Aufnahme der in Ungarn gestrandeten Syrer von Ende August im Rahmen einer denkwürdigen humanitären Aktion, hat Deutschland und der Kanzlerin zudem auch viel Kritik, etwa aus Ungarn oder Frankreich und nicht zuletzt der CSU eingebracht. Aktuell scheint die Angst vor der eigenen Courage in einer unverhältnismäßigen Verschärfung der deutschen Asylgesetze und teilweise überzogenen Kritik an den EU-Partnern zu münden. Doch weder eine Rolle rückwärts im deutschen Ausländerrecht noch Panikmache sind derzeit gute politische Berater. Stattdessen ist der gesunde Menschenverstand gefragt.

Ein deutliches Zeichen hat derweilen das Europäische Parlament am 17. September 2015 gesetzt. Im beschleunigten Dringlichkeitsverfahren stimmten die Abgeordneten der von der Kommission vorgeschlagenen Notfallumverteilung von 120 000 Flüchtlingen ohne Änderungen zu und machten damit den Weg zu einer verbindlichen Abstimmung im erneut außerplanmäßig einberufenen Innenministerrat am 22. September frei.

Sollten dennoch die politischen Bemühungen scheitern, in der Flüchlingsfrage Einheit zu demonstrieren und die Aufgabe gemeinsam zu bewältigen, dürfen sich Deutschland und andere aufnahmebereite Staaten nicht zurückziehen. Vielmehr sollte eine Gruppe der Willigen, sprich EU-Länder, wie Deutschland, Österreich, Frankreich oder Schweden in einer abgestimmten Aktion beherzt vorangehen und dem Rest der EU zeigen, dass eine menschenwürdige und geordnete Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden möglich ist. Damit wäre Zeit für das Finden dauerhafter Lösungen gewonnen und andere Länder könnten sich von diesem Weg inspirieren lassen.



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