Die Stunde der Realpolitik - Die schwierige Suche nach europäischen Antworten in der Flüchtlingsfrage

(Katrin Hatzinger)

Trotz zahlreicher politischer Initiativen der EU-Kommission, die Lösung der Flüchtlingsfrage auf europäischer Ebene voranzubringen, ist die Stimmung unter den Mitgliedstaaten angespannt und befriedigende Antworten stehen weiterhin aus.

Ein Schlüssel zur Lösung der Krise wird in den Beziehungen zur Türkei gesehen. Die Europäische Union strebt eine engere Zusammenarbeit mit dem Beitrittskandidaten an, um die Anzahl der Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europa einreisen, zu begrenzen. Am 29. November 2015 haben sich die Europäischen Union und die Türkei auf einem Gipfeltreffen darauf geeinigt, einen Aktionsplan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise in Kraft zu setzen. Die Türkei beherbergt derzeit mehr als zwei Millionen syrischer Flüchtlinge und hat für deren Aufnahme bereits sieben Milliarden Euro ausgegeben. Die EU sagte der Türkei einen Betrag von drei Milliarden Euro zusätzlichen Mitteln zu. Die Türkei verpflichtet sich im Gegenzug, die sozioökonomische Lage der Syrer zu verbessern, u.a. sollen syrische Flüchtlinge in der Türkei Zugang zu Schulbildung und zum Gesundheitssystem erhalten. Dafür verlangt die EU von der Türkei die Eindämmung des Zustroms irregulärer Migranten. Die Zusammenarbeit mit den griechischen und bulgarischen Behörden bei der Grenzsicherung soll dementsprechend intensiviert werden. Ab Juni 2016 sollen abgelehnte Asylbewerber im Rahmen eines Rückübernahmeabkommens von der Türkei zurückgenommen werden.

Ferner will die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei intensivieren und die Visaliberalisierung beschleunigen. Die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige soll spätestens ab Oktober 2016 der Vergangenheit angehören. Ende 2016 sollen dann auch die förmlichen Verhandlungen über den Ausbau der Zollunion beginnen können.

Dass weiterhin viel Gesprächsbedarf auf beiden Seiten vorhanden ist, scheint allen Beteiligten bewusst zu sein. Zukünftig soll ein strukturierter und zweimal jährlicher Dialog auf hoher Ebene eine wesentliche Voraussetzung dafür sein, das „enorme Potenzial der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU“ zu erschließen. Dieses Gipfeltreffen soll als Plattform für die Bewertung der Entwicklung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU und für die Erörterung internationaler Fragen bieten. Auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sollen regelmäßige Tagungen im Rahmen des politischen Dialogs auf der Ebene der Minister/des Hohen Vertreters/der Kommissionsmitglieder stattfinden. Die Wirtschaftsbeziehungen sollen durch die Aufnahme eines Wirtschaftsdialogs, der erstmals Anfang 2016 stattfinden soll, vertieft werden. Dieser soll auch zur Einrichtung einer Business-Plattform genutzt werden. Bereits im März 2015 war in Ankara ein Energiedialog aus der Taufe gehoben worden, der nun ebenfalls Anfang 2016 mit einer zweiten Tagung seine Fortsetzungen finden soll.

Wie schwierig die rasante Annäherung tatsächlich ist, zeigt die Debatte um eine europäische Liste sicherer Herkunftsstaaten, die von der EU-Kommission als Teil der Umsetzung der Europäischen Migrationsagenda bereits am 9. September 2015 vorgeschlagen worden war. Die Liste umfasst neben Ländern wie Albanien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Kosovo, Montenegro und Serbien auch die Türkei. Während Kommissionspräsident Juncker der Türkei als Beitrittskandidaten automatisch den Status eines sichereren Herkunftslandes zusprechen will, sind einige der EU-Mitgliedstaaten an diesem Punkt zögerlich, nicht zuletzt aufgrund des kritischen Fortschrittsberichts zur Lage der Menschenrechte in der Türkei vom 10. November 2015 (siehe Artikel in dieser Ausgabe).

Die EDK-Synode hat sich auf ihrer Novembertagung in Bremen deutlich gegen eine Schwächung des europäischen Asylrechts durch eine Liste sicherer Herkunftsstaaten ausgesprochen und insbesondere gegen die Aufnahme der Türkei auf diese Liste gewandt. Ferner setzten sich die Synodalen für sichere und legale Wege für Schutzsuchende, eine umfassende Information und Rechtsberatung der Flüchtlinge und die Bekämpfung von Fluchtursachen ein.

Im Vorfeld des EU-Türkeigipfels hatte Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam mit sieben weiteren EU-Staaten über eine mögliche Neuansiedlung syrischer Flüchtlinge aus türkischen Flüchtlingslagern beraten. Für März 2016 hat die EU-Kommission zudem einen Vorschlag für ein strukturiertes, sprich verbindliches europäisches Neuansiedlungsprogramm angekündigt. Bislang haben die EU-Mitgliedstaaten sowie die assoziierten Staaten nach dem Aufruf der EU-Kommission vom Mai auf freiwilliger Basis rund 22 000 Resettlement-Plätze zur Verfügung gestellt, wobei de facto erst 373 Flüchtlinge (Stand 30. November 2015) in der EU neuangesiedelt worden sind.

Doch wie die Erfolgsaussichten für deren Annahme unter den 28 EU-Mitgliedstaaten stehen, ist derzeit mehr als fraglich. Das Vorhaben, 160 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland im Wege einer Notfallmaßnahme nach einem Verteilungsschlüssel innerhalb der EU (mit Ausnahme von Großbritannien und Dänemark) umzuverteilen („relocation“), läuft derzeit nur äußerst schleppend an (EKD-Europa- Informationen Nr. 149). Bislang sind gerade einmal 184 Menschen umgesiedelt worden (130 aus Italien und 54 aus Griechenland). Die baltischen sowie die ost- und mitteleuropäischen Staaten haben bislang auch noch nicht erkennen lassen, in welcher Größenordnung, sie sich an der Relocation beteiligen werden. Es stellt sich die Frage, wie ein verbindliches Resettlement-Programm operationell werden soll, wenn die Mitgliedstaaten sich schon mit der Umsiedlung derart schwer tun?

Auch in Sachen Registrierung von Neuankömmlingen geht es mühsam voran. Die geplanten Hotspots in Griechenland und Italien arbeiten noch nicht in ausreichendem Umfang, v.a. in Griechenland sind die Zustände weiterhin chaotisch. Eine funktionierende Registrierung ist aber Voraussetzung für die Verteilung der Schutzsuchenden auf die EU und letztlich auch Voraussetzung für die geplante Reform der Dublin-Verordnung, die die EU-Kommission im März 2016 vorstellen will. Angesichts der Überforderung der Staaten an den Außengrenzen wird es darum gehen, das System mit einem Verteilungsmechanismus zu kombinieren. Wie genau dieser aussehen wird, wird derzeit noch mit den Mitgliedstaaten diskutiert.

Ein Teil des aktuellen Problems liegt auch in der unzureichenden Anwendung europäischen Rechts. So wäre den Schutzsuchenden schon sehr geholfen, wenn etwa die Standards der Asylverfahrensrichtlinie und der Richtlinie über Aufnahmebedingungen unionsweit eingehalten würden. Deshalb leitet die Europäische Kommission mittlerweile auch Vertragsverletzungsverfahren ein. Zuletzt am 10. Dezember 2015 gegen Griechenland, Kroatien, Italien, Malta und Ungarn wegen mangelhafter Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Im Fall von Griechenland, Italien und Kroatien geht es um die mangelnde Anwendung der Eurodac- Verordnung, wonach Asylsuchende Fingerabdrücke abgenommen werden müssen. Griechenland und Malta wenden zudem die Asylverfahrensrichtlinie und die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen nicht korrekt an. Ungarn wird von der Kommission wegen der verschärften ungarischen Asylrechtsvorschriften kritisiert, die nicht den Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie und der Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren entsprächen. Vor der Einleitung dieses Vertragsverletzungsverfahrens hatte die Kommission bereits gegenüber Ungarn ihre Bedenken über die jüngsten Asylrechtsverschärfungen geäußert.

Der Europäischen Kommission kann man also sicherlich keine Untätigkeit vorwerfen, aber ohne Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsstaaten sind auch ihr die Hände gebunden.

Einigkeit besteht unter den Staaten derzeit nur in einem Punkt: bei der Verbesserung des Schutzes der EU-Außengrenzen. Neben der Kooperation der Türkei soll auch die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX (wieder einmal) gestärkt werden. Die EU-Kommission wird dazu am 15. Dezember 2015 ein Grenzschutzpaket vorstellen. Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière und sein französischer Amtskollege Bernard Cazeneuve hatten bereits im Vorfeld in einem gemeinsamen Schreiben an den EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos gefordert, dass Frontex die Befugnis erhalten sollte, in Ausnahmefällen den Grenzschutz an den EU eigenständig wahrzunehmen. Ganz soweit wird sich die EU-Kommission in ihrem Vorschlag wohl aber nicht in die mitgliedstaatliche Souveränität hineinwagen. Erwartet wird allerdings ein deutlicher Schritt in Richtung europäischer Grenzsicherung.

„Weil wir Schengen erhalten wollen, müssen wir den Schutz unserer gemeinsamen EU-Außengrenzen und das Gemeinsame Europäische Asylsystem dringend weiterentwickeln“, heißt es weiter in dem Schreiben der beiden Innenminister. Es steht tatsächlich viel auf dem Spiel und es verdichtet sich das Gefühl, dass das Zeitfenster für eine gemeinsame europäische Vorgehensweise immer enger wird, weil das Vertrauen weiter erodiert. Ab dem 1. Januar 2016 übernehmen die Niederländer das Ruder im Rat. Ab Juli 2016 folgen die Slowaken, die gerade vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die EU-Kommission wegen des Verteilungsschlüssels für Flüchtlinge klagen.

Auch von EU-Präsident Tusk ist in der Flüchtlingsfrage nicht viel zu erwarten. Er zog sich mit Äußerungen zur „Flüchtlingswelle, die zu groß sei, sie nicht zu stoppen“ und dem Vorschlag, Antragssteller bis zu 18 Monaten für ein Sicherheitsscreening festzuhalten, nicht nur Ärger im Europäischen Parlament, sondern auch das Unverständnis der Bunderegierung zu. In derartigen Zeiten wäre er besser beraten, zu moderieren, als zu provozieren. Aber auch seine Äußerungen sind symptomatisch für den Ernst der Lage.

Die Abschlusserklärung des EU-Türkei-Gipfels finden Sie unter: http://ekd.be/EU-Tuerkei-Treffen

Den Beschluss der EKD-Synode hier: http://ekd.be/Fluechtlingsschutz_in_Europa



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