Mehr Rück- als Fortschritte - Kommission legt Türkeibericht vor

(Sebastian Schwab)

Die Lage der Menschenrechte und des Rechtsstaats in der Türkei gibt laut der Europäischen Kommission, die am 10. November 2015 den obligatorischen jährlichen Fortschrittsbericht zum EU-Beitrittsprozess der Türkei vorgelegt hat, weiterhin Anlass zu Besorgnis. So spart sie auch nicht mit Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdogan. Wohl wegen dieser stellenweise klaren Worte – insbesondere zur Achtung der Meinungsfreiheit, des Minderheitenschutzes und der Unabhängigkeit der Justiz – verschob die Kommission das Erscheinen des Berichts immer wieder, schließlich wollte man die Türkei als wichtigen Partner bei der Bewältigung der derzeitigen Flüchtlingskrise im Vorfeld der Neuwahlen in der Türkei am 1. November 2015 nicht verärgern. Dieses Vorgehen wurde schon vor dem Erscheinen des Berichts heftig kritisiert. So kommentierte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms: „Es ist unverantwortlich, dass die EU-Kommission diesen Bericht bis nach den Wahlen in der Türkei zurückgehalten hat“. Er zeige klar, dass sich die Türkei bei Menschenrechten und Demokratie „im Rückwärtsgang“ befinde.

Auf dem Gebiet der Religionsfreiheit ergaben sich im letzten Jahr zumindest keine Verbesserungen. Weiterhin sei das Land weit entfernt von EU-Standards und der Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dass dieser beispielsweise geurteilt hatte, dass Nicht-Muslime eine Befreiung vom ansonsten obligatorischen islamischen Religionsunterricht erlangen können müssen, veranlasste das Land ebenso wenig zum Handeln, wie die Pflicht, auch die Orte anderer Religionsgemeinschaften als Gebetsstätten anzuerkennen. Den orthodoxen Kirchen in der Türkei sei man bei ihren Forderungen, eigene Ausbildungsstätten zu betreiben, nicht entgegengekommen. Hassreden gegen Christen, Juden und Aleviten stellten nach wie vor ein großes Problem dar, zumal die strafrechtliche Aufarbeitung dieser Äußerungen ungenügend sei und die Gerichte in der Türkei Unwillens seien, Hassreden gegen nichtmuslimische Minderheiten zu ahnden. Das sei auch nur deshalb möglich, weil die Grenzen der Meinungsfreiheit in der Türkei nicht klar gezogen und uneinheitlich ausgelegt würden.

So kritisiert die Kommission insbesondere die restriktive Auslegung der Meinungsfreiheit, wenn es um regierungskritische Äußerungen geht. Journalisten würden systematisch bei ihrer Arbeit behindert, in letzter Zeit auch wieder häufiger unter Arrest gestellt oder mit Geld- und Gefängnisstrafen belegt. Das sei Folge einer extensiven Nutzung und Verschärfung des Strafrechts. Ein Klima der Selbstzensur sei darum im Entstehen begriffen. Wenn diese nicht greife, werde der Staat auch selbst tätig. So verbot er die Veröffentlichung mehrere Zeitungen, wenn Themen als besonders sensibel wahrgenommen wurden, wie im Juli 2015, als die Gewalt zwischen Kurden und Türken im Südosten des Landes wieder massiv zunahm. Auch verhängte die Regierung gegen mehrere private Rundfunksender horrende Strafen, wenn gesendete Inhalte angeblich den „moralischen Grundsätzen des Landes“ zuwiderliefen. Durch solches Vorgehen bringe der Staat unliebsame Medien bewusst in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der öffentliche Rundfunk hingegen sei nicht unabhängig in seiner Berichterstattung. Das habe sich bei der Wahlberichterstattung erst jüngst gezeigt, bei der die regierende Partei AKP von Präsident Erdogan signifikant überrepräsentiert gewesen sei. Auch gewöhnliche Nutzer sozialer Medien seien bei kritischen Äußerungen durch die Regierung verfolgt worden. Zudem sperre die Türkei derzeit 80.000 kritische Internetseiten. und sei der größte Antragsteller beim Kurznachrichtendienst Twitter, wenn die Löschung von Inhalten verlangt werde.

Auch gegenüber regierungskritischen öffentlichen Protesten zeige die Regierung laut dem Fortschrittsbericht der Kommission „wachsende Intoleranz“. Demonstrationen würden regelmäßig bei schwacher Begründung durch die Polizei untersagt und mit unverhältnismäßiger Gewalt aufgelöst. Das sei beispielsweise bei einer Demonstration von LGBTI-Personen in Istanbul zu beobachten gewesen. Insbesondere Transgender-Personen würden immer wieder Opfer von Morden oder anderen hassmotivierten Verbrechen. Staatliche Repression, z.B. durch willkürliche Strafen, Hausdurchsuchungen und Polizeigewalt, habe sich ihnen gegenüber fortgesetzt. Bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen habe die türkische Polizei ihre Anstrengungen gesteigert. Diese würden jedoch durch beständige, abschätzige Bemerkungen hochrangiger Politiker und hoher Regierungsbeamter über Frauen konterkariert. Zusammen mit der vielerorts noch ineffektiven Umsetzung der Gesetzgebung zum Schutz von Frauen und dem geringen Rechtsschutz, den sie erhielten, wenn sie Verfahren anstrengten, ergebe sich ein unbefriedigendes Bild. Geflüchtete syrische Frauen seien besonders gefährdet, sexuell ausgebeutet, zur Prostitution gezwungen und Opfer von Menschenhandel zu werden. Auch bei den Kinderrechten verzeichnete die Kommission nur verhaltene Fortschritte. Die unternommenen Maßnahmen seien oftmals ineffektiv, weiterhin wurden Kinderarbeiter Opfer fataler Unfälle. Das durchschnittliche Heiratsalter sei in den letzten Jahren in der Türkei zwar gestiegen, doch besonders in der schwach entwickelten Osttürkei blieben Kinderund Zwangsheirat ein Problem. Die Beschulungsrate von Roma-Kindern sei besonders niedrig.

Wie stark die Türkei in Richtung eines autoritären Staates abdriftet, wird auch an den Äußerungen der Kommission zur Unabhängigkeit des Justizsystems und zur Gewaltenteilung deutlich. Hier beklagt die Kommission, beides sei im letzten Jahr „ernstlich untergraben“ worden. Richter und Staatsanwälte stünden unter erheblichem öffentlichen Druck und riskierten, bei non-konformem Verhalten gegen ihren Willen versetzt zu werden. Ebenfalls undurchsichtig sei der Modus der Zuteilung von Fällen an Gerichte. Diese Vergabe erfolge nicht zufällig, sondern es habe im vergangenen Jahr mehrere Berichte gegeben, nach denen politische Einflussnahme über die Befassung eines bestimmten Gerichts mit dem Fall entschied. Die Einflussnahme erstrecke sich auch auf laufende Verfahren, zu denen sich hochrangige Mitglieder der Exekutive und der Legislative fortwährend einließen. Gerichtliche Überprüfung der eigenen Tätigkeit lehnten jedoch insbesondere die anderen Gewalten ab. So verhinderte das türkische Parlament Prozesse gegen vier Minister, deren Verstrickung in den Korruptionsskandal 2013, der damals höchste Ebenen des Staates umfasste, bekannt geworden war.

Die jüngsten Wahlen hingegen (Parlamentswahl am 7. Juni 2015, Neuwahl am 1. November 2015) seien im Großen und Ganzen nach demokratischen Maßstäben verlaufen. Kritisch merkte die Kommission lediglich an, dass die islamisch-konservative AKP öffentliche Mittel zum Wahlkampf verwendet habe und Gefängnisinsassen keine Chance zur Wahlteilnahme gegeben wurde. Auch die Zehnprozenthürde, die die höchste Sperrklausel unter allen Mitgliedern des Europarats darstelle, ändert jedoch nichts am Wählerwillen, der mit 49,5 Prozent – und damit einer absoluten Mehrheit im Parlament – die AKP an der Spitze der Regierung sehen will.

Die AKP wies den Bericht aus Brüssel unterdessen scharf zurück. Die Kommentare zu Rechtsstaatlichkeit und Meinungs- und Pressefreiheit seien „unfair und exzessiv“, Kritik an Präsident Erdogan „inakzeptabel“. Klar ist, dass die EU trotz des zum Teil bedenklichen Berichts nicht umhin kommt, bei der Lösung der Flüchtlingskrise mit der Türkei zusammenzuarbeiten. Die Türkei hat laut Kommission „bemerkenswerte Anstrengungen“ bei der Unterbringung von knapp zwei Millionen syrischen Flüchtlingen vorzuweisen. Zur Zusammenarbeit dürfte wohl für die Kommission, aber auch für viele Mitgliedstaaten das Zugeständnis gehören, die zuletzt schleppenden Beitrittsverhandlungen zu beschleunigen.



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