Beschäftigung & Soziales

EuGH verschärft Ton im Streit u, Sozialmissbrauch

(Julia Maria Eichler)

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat am 15. September 2015 in der Rechtssache „Alimanovic“ (C-67/14) entschieden, dass ein Mitgliedsstaat einen Unionbürger, der in diesen Staat zur Arbeitssuche einreist, von bestimmten beitragsunabhängigen Sozialleistungen ausschließen kann, ohne gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu verstoßen. Der Anspruch auf Sozialleistungen würde, für einen Unionsbürger, der weniger als ein Jahr gearbeitet habe, noch für einen Zeitraum von sechs Monaten nach Ende der letzten Beschäftigung bestehen, weil so lange auch die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten bleibe. Danach könnten die Mitgliedsstaaten von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie (2004/38/EG) Gebrauch machen, der eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz für Unionsbürger darstelle und einen Ausschluss zulasse.

Geklagt hatten Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita, die beide die schwedische Staatsbürgerschaft besitzen. Frau Alimanovic, ebenso wie ihre insgesamt drei in Deutschland geborenen Kinder hatte bis 1999 in Deutschland gewohnt und kehrte im Juni 2010 aus Schweden nach Deutschland zurück. Zwischen Juni 2010 und Mai 2011 war sie und ihre ebenfalls erwerbsfähige Tochter Sonita weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen tätig. Zuletzt wurden Frau Alimanovic und ihrer Tochter Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB) für den Zeitraum vom 01. Dezember 2011 bis zum 31. Mai 2012 bewilligt. Das zuständige Jobcenter hob jedoch die Bewilligung der Grundsicherung für Mai 2012 auf. Die Familie klagte gegen diese Entscheidung.

Das Bundessozialgericht legte dem EuGH u.a die Frage vor, ob der Ausschluss von der deutschen Grundsicherung, wie er in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, vorgesehen ist, mit Unionsrecht vereinbar sei. Da den eigenen Staatsangehörigen diese Mittel gewährt würden, sei es fraglich, ob dies den Gleichbehandlungsgeboten der Unionsbürgerrichtlinie (Art. 24 Abs. 1) und der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004) (Art. 4) sowie Art. 45 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweisen der Europäischen Union (AEUV) widerspreche.

Der EuGH hatte bereits in seinem „Dano“-Urteil (C- 333/13) entschieden, dass die deutsche Grundsicherung in den Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie (Art. 24 Abs. 1) und der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit falle. Im Umkehrschluss sei der Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 2 nicht eröffnet.

Ein Anspruch auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Sozialleistungen bestehe nach Art. 24 Abs. 1 2004/38/EG nur, wenn dem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht i.S.d. Unionsbürgerrichtlinie zustehe. Bereits im Urteil „Dano“ führte der EuGH aus, dass es dem im Erwägungsgrund 10 genannten Ziel, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedsstaats durch Unionsbürger zu verhindern, zuwiderliefe wenn man zuließe, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Unionsbürgerrichtlinie zustehe, unter den gleichen Voraussetzungen wie ein Inländer Sozialleistungen beanspruchen können.

Da die Kläger weniger als ein Jahr erwerbstätig gewesen seien, sei die ein Aufenthaltsrecht begründende Erwerbstätigeneigenschaft für sechs Monate erhalten geblieben. Zum Zeitpunkt der Leistungsstreichung war demnach dieser Zeitraum verstrichen.

Die Kläger seien damit wieder als Arbeitssuchende zu betrachten, denen ein Aufenthaltsrecht solange zustehe, wie Arbeit gesucht und eine begründete Aussicht bestehen würde, eingestellt zu werden. Sie könnten aber vom Grundsatz der Gleichbehandlung insoweit ausgenommen werden könnten, als dass keine Verpflichtung zur Leistung von Sozialhilfe bestünde.

Ein Ausschluss von der Grundsicherung sei somit in diesem Fall möglich. Zudem bedürfe es hier auch keiner Einzelfallbewertung, ob der Unionsbürger im Rahmen seines Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursache. Denn die Unionsbürgerrichtlinie selber stelle ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbsfähigkeit zur Verfügung, dass verschiedene Faktoren berücksichtige, die die jeweiligen persönlichen Umstände der die Sozialleistung beantragenden Person kennzeichne. Dies würde auch ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz gewährleisten. Zudem sei eine individuelle Prüfung, welche Belastungen die Gewährung einer Sozialleistung für das nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, schwerlich möglich. Eine einem einzigen Antragssteller gewährte Hilfe könne schwerlich als „unangemessene Inanspruchnahme“ eingestuft werden. Vielmehr sei der Mitgliedsstaat nur nach der Aufsummierung sämtlicher bei ihm gestellter Einzelanträge belastet.

Die Regelung des SGB II stünde damit dem Gleichbehandlungsgebot der Unionsbürgerrichtlinie noch der VO 883/2004 entgegen.

Auch wenn das Urteil einige Mitgliedsstaaten freuen wird, überzeugen kann es nicht.

Der Generalanwalt Wathelet hatte in seinen Schlussanträgen ausgeführt, dass ein automatischer Ausschluss, ohne dass dem Unionsbürger erlaubt würde, das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedsstaat nachzuweisen, in der vorliegenden Fallgestaltung gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße. Er hatte dies mit der Unterstützung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichthofs getan, die immer wieder den Zugang zu Sozialsystemen von der tatsächlichen Verbindung zum Aufnahmestaat abhängig gemacht hatte. Warum der Gerichtshof seiner ständigen Rechtsprechung den Rücken kehrt, erklärt er nicht. Auch darf bezweifelt werden, dass das Interesse des Unionsbürgers an Rechtssicherheit und Transparenz höher sein dürfte, als an einer individuellen Prüfung.

Zum anderen hätte man vom EuGH erwarten können, dass er das umstrittene Verhältnis der Unionsbürgerrichtlinie und VO 883/2004 klärt. Die VO 883/2004 dient der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ohne diese anzugleichen. Anders als die Unionsbürgerrichtlinie setzt die Verordnung kein Aufenthaltsrecht für den Zugang zu beitragsunabhängigen Sozialleistungen voraus, sondern gewährt einen Anspruch auf Gleichberechtigung, sobald der tatsächliche Wohnort im Aufnahmestaat liegt. Der EuGH macht in seinem Urteil aber den rechtmäßigen Aufenthalt der Unionsbürgerrichtlinie zur Voraussetzung des sozialrechtlichen Gleichbehandlungsanspruchs der Verordnung.

Anders als sein Generalanwalt, der in seinen Schlussanträgen darauf hingewiesen hatte, dass den Kindern ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aus dem Recht auf Zugang zur Ausbildung gemäß Art. 10 der Verordnung 492/2011 zustehen könne, ebenso wie dem Elternteil, der die elterliche Sorge wahrnehme, geht der EuGH auf Aufenthaltsrecht jenseits der Unionsbürgerrichtlinie nicht ein.

Das Urteil fällt inmitten der politisch brisanten Diskussionen über das EU-Referendum im Vereinigten Königreich (Siehe Leitartikel), in denen auch die Begrenzung des Zugangs für Unionsbürger zu Sozialleistungen gefordert wird.

Das Klima für Unionsbürger, die in einem anderen Mitgliedsstaaten Arbeit suchen, wird rauer werden. Denn schon mit diesem Urteil verschärft der Gerichtshof die Möglichkeiten zur sozialen Ausgrenzung von Unionsbürgern, die sich zwar in dem Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und nicht ausgewiesen werden dürfen, aber gleichzeitig keinerlei Zugang zu den Leistungen der Grundsicherung haben.

Neben der Rechtssache „Garcia-Nieto“ C-299/14 (EKD-Europa-Informationen Nr. 149) wird der EuGH spätestens in der Rechtssache C-308/14 zum Spannungsverhältnis zwischen Richtlinie und Verordnung Farbe bekennen müssen. Die Europäische Kommission klagt darin gegen das Vereinigte Königreich, weil dort das Aufenthaltsrecht Voraussetzung für einen Antrag auf Kindergeld und einen Kinderfreibetrag darstellt.

Die Kommission ist der Ansicht, dass die Verordnung 883/2004 den Vorbehalt eines Aufenthaltsrechts nicht kenne. Selbst wenn der rechtmäßige Aufenthalt eine Voraussetzung sei, würde dies trotzdem gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verordnung verstoßen, so die Kommission. Denn die Festlegung einer Voraussetzung für einen Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit, die von den eigenen Staatsangehörigen automatisch erfüllt werde, stelle eine unmittelbare Diskriminierung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten dar. Die ersten Zeichen aus Luxemburg stehen auf Sturm. Der Generalanwalt Villalón, der seine Schlussanträge am 6. Oktober 2015 vorgelegt hat, beantragte, die Klage der Kommission abzuweisen. Die Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts sei aufgrund der Notwendigkeit gerechtfertigt, die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedsstaats zu schützen.

Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic finden Sie unter: http://ekd.be/EuGH-Alimanovic

Die Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-308/14 finden Sie unter: http://ekd.be/Generalanwalt_EuGH-C308-14



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