Europäische Kirchenjuristen debattieren in Brüssel

(Katrin Hatzinger)

Am 21. und 22. Februar 2013 haben sich auf Einladung des EKD-Büros und der Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) Kirchenjuristen aus 18 Ländern zu einer zweitägigen Konferenz unter der Überschrift "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Kirchen" getroffen.

Es war die zweite europäische Kirchenjuristentagung nach einer ersten Konferenz im November 2008. In den vergangenen Jahren hat die Rechtsprechung des EGMR mehr und mehr an Bedeutung für die Kirchen gewonnen. Insbesondere der Fall Lautsi und andere vs. Italien (Antrag Nr. 30814/06) im November 2009 löste eine kontroverse Debatte über die Haltung der Straßburger Richter zur Religionsfreiheit sowie über die Kompetenzen des Gerichtshofes, in nationale Staat-Kirchen-Verhältnisse einzugreifen, aus (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 136).

Darüber hinaus gab es zahlreiche Fälle, die die Loyalitätspflichten von Kirchenangestellten (Fälle Obst/Schüth, siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 135) berührten. Dabei stützte der Gerichtshof das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, betonte aber die Notwendigkeit, die Rechte der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf angemessene Weise gegeneinander abzuwägen. Der Vertrag von Lissabon schafft zudem nun in Art. 6 (2) EUV die gesetzliche Grundlage und die Verpflichtung für den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Auch vor dem Hintergrund der andauernden Beitrittsverhandlungen war es interessant, die Rolle des Gerichtshofs für den Grundrechtsschutz in der EU näher zu beleuchten.

Ziel der Veranstalter war es, das Verständnis der EGMR-Urteile und ihre Bedeutung für die Stellung der Kirchen in ganz Europa zu vertiefen sowie die Kirchenvertreter für die Auslegung von Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) durch den Gerichtshof zu sensibilisieren. Nach einer Einführung in die Thematik durch Pfarrer Rüdiger Noll und OKR‘in Katrin Hatzinger beleuchteten drei Referenten verschiedene Aspekte der aktuellen Rechtsprechung: Prof. em. David McLean, Mitglied des Europäischen Konsortiums für Staat-Kirche-Beziehungen und Mitglied der Arbeitsgruppe EU-Gesetzgebung der Kommission Kirche und Gesellschaft, stellte anhand der Lautsi-Rechtsprechung und der jüngsten Urteile des Gerichtshofs zum Verhältnis zwischen Religionsfreiheit und Arbeitsrecht (Eweida v. UK - Beschwerden Nrn. 48420/10, 59842/10, 51671/10 und 36516/10, siehe vorangehender Artikel) die Entwicklung der Rechtsprechung zu Art. 9 EGMR (Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit) dar. Zwar bleibe der Tenor der Straßburger Urteile seines Erachtens nach weiterhin schwer vorherzusehen und oft fehle es den juristischen Argumenten an Stringenz, allerdings nehme der Gerichtshof in letzter Zeit sinnvolle Klarstellungen vor, z. B. bei der Definition des Schutzbereiches von Art. 9 EMRK am Arbeitsplatz.

Prof. Dr. Louis-Leon Christians von der Katholischen Universität Leuven referierte anhand ausgewählter Fälle des EGMR über die Autonomie der Kirchen und erläuterte sich abzeichnende Trends. Dabei widmete er sich insbesondere dem aktuell noch anhängigen Verfahren im Fall Sindicatul "Pastorul cel Bun" v. Romania (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 139) und zeigte Ambiguitäten in der Argumentationsweise des EGMR auf. Seiner Ansicht nach sind die Urteile in ihrem politischen Kontext zu interpretieren. Dabei nehme die religiöse Bildung und Sensibilität der Richter in einer zunehmend säkularen Gesellschaft tendenziell ab. Seiner Ansicht nach verenge sich dadurch auch der den Signatarstaaten der Menschenrechtskonvention zugestandene Beurteilungsspielraum, wenn es um den Erhalt der kirchlichen Autonomie gehe. Er zog deshalb u. a. die Schlussfolgerung, dass die Argumentation der nationalen, aber auch der europäischen Richter je nach Komplexitätsgrad des jeweiligen Staats-Kirche-Verhältnisses entsprechend präziser und ausgewogener sein müsse.

Prof. Dr. Michael Heinig von der Georg-August- Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD sprach zu dem Thema "Der öffentlich-rechtliche Status für Religionsgesellschaften in Deutschland und Österreich im Lichte der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte". Nach einem Einblick in die historischen Gründe für die aktuelle Ausgestaltung des religiösen Organisationsrechts in Europa konzentrierte er sich auf die EGMR-Fälle zur Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaften öffentlichen Rechts. Abschließend resümierte er, dass der EGMR sich zurückhalte, in das Religionsrecht der Signatarstaaten zu stark einzugreifen, und sich bemühe, "gehaltvolle Mindeststandards" in Fragen der Religionsfreiheit und des Verbots religiöser Diskriminierung zu setzen. Einzelfallentscheidungen seien daher an der Tagesordnung, teilweise mit einer "kleinteiligen Verhältnismäßigkeitsprüfung". Prof. Heinig spitzte die Analyse seiner Vorredner zu, indem er auf die Rolle des Gerichtshofs als politischer Akteur hinwies, der in einem "machtpolitischen Kontext" agiere, dessen sich das Gericht durchaus bewusst sei. Gerade diese Besonderheit mache es aber auch so schwierig, die künftige Spruchpraxis vorherzusehen.

Dr. Michal Rynkowski aus der Europäischen Kommission und Mitarbeiter im Europäischen Konsortium für Staat-Kirche-Beziehungen kam die schwierige Aufgabe zu, die Ergebnisse der Vorträge am Ende des Tages zusammenzufassen und zuzuspitzen. Seine kurzweilige Rückschau endete mit der Feststellung, dass die Kirchen dankbar sein könnten, dass der Straßburger und nicht der Luxemburger Gerichtshof entscheide.

Am zweiten Tag stand der neben der EMRK andere bedeutende europäische Menschenrechtskodex im Mittelpunkt der Tagung, die Europäische Grundrechtecharta. Dr. Clemens Ladenburger aus dem Juristischen Dienst der Europäischen Kommission sprach anhand konkreter Beispiele aus der EU-Politik über die wachsende Bedeutung der Grundrechtecharta in der Gesetzgebung der EU und erläuterte in der Diskussion den aktuellen Stand der Verhandlungen zum Beitritt der EU zur EMRK.

Anschließend gab es im Rahmen von vier verschiedenen Arbeitsgruppen einen angeregten Austausch der kirchlichen Rechtsexperten über die neuesten rechtlichen Entwicklungen in ihren jeweiligen Kirchen und Ländern. Folgende Themen standen im Mittelpunkt: 1. das kirchliche Arbeitsrecht, 2. Religion im öffentlichen Raum, 3. die Rückerstattung kirchlichen Eigentums sowie 4. der Grundrechteschutz im Mehrebenensystem. Zu letzterem Punkt referierte Prof. Dr. Rüdiger Stotz, Generaldirektor Bibliothek, Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg.

In der Abschlussrunde waren sich die Teilnehmer einig, dass die Tagungsinhalte und insbesondere der Austausch mit den Teilnehmern aus anderen Kirchen und Ländern als sehr bereichernd erlebt worden war. Gerade Vertreter kleinerer Kirchen empfanden es hilfreich, auf vergleichbare Problemstellungen und Erfahrungen zu treffen und voneinander zu lernen. Eine dritte europäische Kirchenjuristentagung ist daher angedacht.



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