Kirche und Europa

(Pfarrer Markus Merz)

Monica Schreiber fragt in ihrer Dissertation „Kirche und Europa" aus sozialwissenschaftlicher, historischer und theologischer Perspektive nach Konzepten zu Europa und zu einer europäischen Identität. Nachdem grundsatztheoretisch von einer objektiv vorgegebenen Identität nicht auszugehen sei, ist es ihre Überzeugung, dass „individuelle wie kollektive Identität sich vielmehr im gegenseitigen Wechselspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung" herstelle. Von daher ist ihr weiterer empirischer Schritt schlüssig, nach der Befragung von Akteuren aus dem Bereich Kirche und Europa overarching thermes herauszuarbeiten. Diese übergreifenden Begriffe zur territorialen Abgrenzung Europas, zum „Geist Europas" oder zur „Seele Europas" münden ein in die Erkenntnis, dass „Europa ... sich nur als Ergebnis von Diskursen und performativen Akten begreifen" lässt. Im Rückgriff auf Luhmann schließt sie daraus: „Es wird darauf ankommen, dass europäische Individuen sich als europäisch verstehen lernen." Für den Leser wird es zunehmend spannend, was dies für Kirche bedeutet und wie es der Verfasserin gelingen wird, von diesen disparaten Ergebnissen und der Einsicht in die auseinanderdriftende Vielfalt zur einer „protestantischen Ekklesiologie im Horizont europäischer Zivilgesellschaft" (so der Untertitel ihres Werkes) zu gelangen.

Vielfalt in kultureller und religiöser Hinsicht mache den Prozesscharakter Europas aus. Um als Kirche an diesem Prozess teilhaben zu können, müsse sie als Voraussetzung die Säkularisierung anerkennen. Es geht also nicht etwa um Säkularisierung als kirchlichen Substanzverlust, sondern um eine positive Deutung der Säkularisierung als Zugewinn von Religion. Mag die organisierte Religiosität zur invisible religion werden, so sei es die Kultur, die sich die symbolischen Ressourcen der Religion einverleibe. Wenn daher nun die Zivilgesellschaft zum öffentlichen Ort der Kirche werde, so sei genau auch hier der Ort gegeben, an dem inmitten der Vielfalt die Anerkennung der Differenzen zum Merkmal einer gemeinsamen Identität werden kann. In der Herausentwicklung einer verbindenden Identität in der EU sieht daher die Verfasserin die besondere Rolle der Kirchen und skizziert deshalb exemplarisch einige kirchliche Institutionen in Brüssel.

Auf der Suche nach dem Verbindenden zwischen der EU und den Kirchen, gibt ihr die Unterscheidung zwischen Religionsverfassungsrecht und Staatskirchenrecht die weitere Fährte: Das Religionsverfassungsrecht plädiert für eine zivilgesellschaftliche, grundrechtlich angeleitete Bestimmung des Verhältnisses des Staats zu den Religionsgemeinschaften, was einen „Verzicht auf eine christliche Färbung" impliziert. Das Verhältnis zwischen der EU und den Kirchen bestimmt sich insofern von der negativen Religionsfreiheit her und vom Recht zur freien Entfaltung. So wird Kirche in Artikel 17 des Lissabon-Vertrages - neben anderen weltanschaulichen Vereinigungen - unter die Akteure der europäischen Zivilgesellschaft gerechnet, mit der die EU den Austausch pflegt. Nach Meinung der Verfasserin muss sich der „offene, transparente und regelmäßige Dialog" in der Praxis erst noch entwickeln. Denn der Wertekonsens, auf dem die EU beruhe, sei nicht inhaltlicher Natur, sondern habe Prozesscharakter und bestehe in den Verfahrensgrundsätzen des zivilgesellschaftlichen Diskurses.

In der Fortfolge der Untersuchung entwickelt die Verfasserin eine ekklesiologische Konzeption, die es erlaubt, evangelisches Grundanliegen und gesellschaftliche Gegeben-heiten in Europa miteinander zu verknüpfen. Konkret stellt sie die These auf, dass sich insbesondere die GEKE, die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa, auf der Basis eines gemeinsamen Verständnisses von protestantischer Religiosität als kulturprotestantische Deutungsinstanz europäischer Lebenswirklichkeit etablieren könne. Die GEKE sei - in Anlehnung an Wittgenstein - als spezifisches, religiöses Sprachspiel zu verstehen. Die Verfasserin begründet dies nicht nur mit der viele Mitglieder umfassenden Infrastruktur. Vielmehr entspräche es der protestantischen Rolle im Vermittlungsgeschehen zwischen Kirche und Welt, dass der Protestantismus sich dem christlich deutenden Individuum in einem third space öffne. Dazu müsse er sich jedoch von den kirchlich Hochintegrierten hin zu einer Außenperspektive öffnen. Den Hochintegrierten fiele die Aufgabe zu, den Diskussionsstand, das „Dogma" zu markieren und zu sichern, um fruchtbar an die von außen herantretenden politischen, religiösen und gesellschaftlichen Sprachspiele anschließen zu können.

Die Stärke der Dissertation liegt im Pendeln zwischen empirischer Wahrnehmung und theoretischer Verdichtung, zwischen Grundlagenarbeit und theologischer und humanwissenschaftlicher Gegenwartsverortung. Nach der Relevanz protestantischer Kirchen in Bezug auf die Vermittlung zwischen Gesellschaft und Individuum zu fragen, ist zeitgemäß und hilfreich. Doch wird man den Eindruck nicht los, dass diese These schon der Ausgangspunkt der Forschung war und zielgerichtet nun aufzuzeigen war. Offen bleiben Fragen zur Praxistauglichkeit: In welcher Sprache kommuniziert eine europäische Zivilgesellschaft? Wo genau ereignet sich diese Öffentlichkeit im aktuellen Geschehen? Auch der Hinweis auf den Aufbau einer „europäische Synode" mag an dieser Stelle praxisfern erscheinen.

Ob Kirche, die sich nach diesem systemtheoretischen Ansatz als „Plattform für eine kulturprotestantische Orientierung" versteht, nicht eher einer Selbstsäkularisierung Vorschub leistet und damit der kraftvollen Botschaft des Evangeliums an Schärfe nimmt, mag zu diskutieren sein. Die Lektüre des auf hohem abstraktem Niveau geschriebenen Buches ist nicht ganz einfach. Doch wird sich der Leser mit manchen frischen Einsichten in das Ineinander von Kirchen und Europa belohnt sehen und dem „europäischen Individuum" künftig mehr Aufmerksamkeit schenken.

Schreiber, Monica (2012): Kirche und Europa. Protestantische Ekklesiologie im Horizont europäischer Zivilgesellschaft. Berlin.



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