London, Berlin und die Zukunft Europas

(Christoph Schnabel)

Mit den Verhandlungen zum Haushalt der Europäischen Union und getrieben von den andauernden Anstrengungen zur Bewältigung der Wirtschafts-, Währungs- und Staatsschuldenkrise wurde die Debatte zur Weiterentwicklung der Europäischen Union fortgesetzt. Dabei wurden zwei neue Akzente gesetzt. Zum einen legte am 23. Januar 2013 David Cameron, der britische Premierminister, seine Vision für die Zukunft der Europäischen Union dar. Knapp vier Wochen später präsentierte Bundespräsident Joachim Gauck seine "Perspektiven der europäischen Idee". Ein Vergleich der beiden Reden ist lohnenswert, da hierbei zwei diametral entgegengesetzte Vorstellungen für eine zukünftige Union aufeinander treffen.
Bereits der Ort der Rede ist bezeichnend. Bundespräsident Gauck eröffnete mit seiner Europarede das "Bellevue Forum", ein Forum, in dem "gesellschaftlich wichtige Debatten angeregt oder vorangetrieben" werden sollen. David Cameron hielt seine Rede in der Londoner Zentrale der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg. Ursprünglich war als Ort der Rede Amsterdam vorgesehen, um an die Tradition europäischer Grundsatzreden im Ausland wie bei Churchill (Zürich 1946), Heath (Brüssel 1972) und Thatcher (Brügge 1988) anzuknüpfen. Wegen des Geiseldramas in Algerien wurde die Rede jedoch verschoben. Der jeweilige Ort ist bezeichnend für die Verortung der beiden Visionen und deren Ausgangspunkte.

Drei wesentliche Probleme stellte Cameron in den Mittelpunkt für die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union: 1. der durch die gemeinsame Währung bedingte politische und institutionelle Wandel, 2. die mangelnde wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union und 3. die "Lücke zwischen der EU und ihren Bürgern". Die wirtschaftliche Entwicklung der Union war dabei nicht nur das zentrale Problem, sondern auch das Kernstück der Lösung für Cameron: "the core of the European Union must be the single market".

Gauck stellte in seiner Rede den "europäischen Bürgersinn" in den Mittelpunkt. So sollen "Takt und Tiefe der europäischen Integration von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern bestimmt" werden. Gleichermaßen setzte er den wirtschaftlichen Zweck der Union und die Prosperität, welche diese Union ermöglicht, in einen zivilgesellschaftlichen Kontext, da die Union einen "innergesellschaftlichen Frieden" sichere. Die friedenssichernde Rolle der Union sieht Cameron als bereits gewährleistet an: "the first purpose of the European Union - to secure peace - has been achieved”, womit er der Union eine neue Funktion zuordnete: "not to win peace, but to secure prosperity" sei der Zweck der Union.
Bei Cameron konzentriert sich der Wert der Union auf seine wirtschaftliche Funktionalität, die es in einem neuen "settlement" zu verhandeln gelte. Gauck weist der Union primär eine gesellschaftliche Funktion zu, die es zu einem "gemeinsamen Diskussionsraum (AGORA)" zu entwickeln gelte. Trotz der grundsätzlichen Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung und Funktion der Europäischen Union sehen beide die Notwendigkeit, diese den Bürgern näher zu bringen und in Entscheidungen besser einzubinden. Bei dem Weg dorthin schlagen beide unterschiedliche Richtungen ein. Gauck nimmt den Bürger in die Pflicht, sich für die Europäischen Union zu interessieren ("Sei nicht gleichgültig!"), sich zu informieren ("Sei nicht bequem!") und zu engagieren ("Erkenne deine Gestaltungskraft"). Cameron möchte zwar gleichfalls die Bürger einbinden, dies jedoch mit der grundsätzlichen Frage einer Mitgliedschaft Englands in der Europäischen Union verknüpfen. Voraussichtlich 2017 sollen die Engländer über den Verbleib in der Union mit einer "In-or-Out"-Abstimmung entscheiden. Dabei setzt sich Cameron stark für ein England in der Union ein: "I will not rest until this debate is won".



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