Freizügigkeit: Kommission versucht Bedenken der Mitgliedstaaten auszuräumen

(Katrin Hatzinger)

Nachdem die EU-Kommission auf Wunsch von Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden am 14. Oktober 2013 zunächst eine Studie zur Freizügigkeit vorgelegt hatte, folgte am 25. November 2013 eine Mitteilung, in der sie mit fünf konkreten Maßnahme versucht, die Vorbehalte einiger Mitgliedstaaten gegen die Freizügigkeit für EU-Bürgerinnen und Bürger wegen potentieller Missbrauchsgefahr auszuräumen.

Die Studie vom Oktober untersuchte dementsprechend den Einfluss der EU-Freizügigkeit auf die nationalen Sozialversicherungssysteme. Die Daten zeigen, dass der Anteil der nichterwerbstätigen EU-Bürger/-innen, die in einem anderen Mitgliedstaat Unterstützung bekommen, sehr gering ist. In einer Pressemitteilung vom 6. Dezember 2013 bezeichnete die Diakonie Deutschland die EU-Freizügigkeit dann auch nicht als ein Problem, sondern als ein „Erfolgsmodell“.

Artikel 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bestimmt, dass jeder Unionsbürger das Recht hat, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.“ Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern ist ein in Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankerter Grundsatz, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit Beschränkungen unterliegen kann. Die Ausübung des Freizügigkeitsrechts steht insbesondere unter den Bedingungen und Beschränkungen der sogenannten Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/EG). Sie fasst Rechte und Pflichten von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen bei Einreise und Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten zusammen.

Der Streit zwischen der Kommission und einigen Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, dreht sich hauptsächlich darum, ob es ausreichende Maßnahmen für die Länder gibt, Missbrauch Einhalt zu gebieten, oder ob der Grundsatz der Freizügigkeit weiterer Einschränkungen bedarf. Hintergrund ist die Kritik einzelner Mitgliedsstaaten, dass eine Anwendung der Freizügigkeitsregeln Missbrauch von Sozialleistungen Vorschub leiste und die nationalen Sozialsysteme über Gebühr belaste. Dies hatte u.a. Innenminister Hans-Peter Friedrich im Hinblick auf Sinti und Roma aus Bulgarien und Rumänien als „Sozialhilfetourismus“ kritisiert. Er forderte im Oktober am Rande des Treffens der EU-Innenminister, dass in erwiesenen Missbrauchsfällen auch eine Ausweisung und ein Wiedereinreiseverbot statthaft sein müssten.
In ihrem Grundsatzpapier vom November betont die Kommission die Bedeutung der Freizügigkeit für den Binnenmarkt und das Wirtschaftswachstum. Die Tatsache, dass über 14 Millionen EU-Bürgerinnen und ‑Bürger in einem anderen Mitgliedstaat leben, zeige, „dass die Freizügigkeit - also die Möglichkeit, überall in der Union zu leben, zu arbeiten und zu studieren - für die Menschen in Europa die wichtigste Errungenschaft der EU ist“. Sozialkommissar Lázló Andor gestand aber auch zu, dass es Probleme gibt: So könne durch einen starken Zustrom von Menschen aus anderen EU-Ländern „beispielsweise eine große Belastung in den Bereichen Bildung, Wohnraum und Infrastruktur“ ausgelöst werden.

In der Mitteilung stellt die Kommission dar, welche Rechte und Pflichten Bürgerinnen und Bürger der EU nach dem Unionsrecht haben, und erläutert die Bedingungen, unter denen Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch auf Freizügigkeit, Sozialhilfe und Leistungen der sozialen Sicherheit haben. Daneben zeigt sie die bestehenden Möglichkeiten, Missbrauch einzudämmen, und gibt Hinweise, wie die Instrumente der sozialen Inklusion zur Bewältigung der Situation genutzt werden können.

Fünf konkrete Maßnahmen werden vorgeschlagen:

  1. Ein Handbuch soll Hinweise zur Bekämpfung von Scheinehen geben.
  2. Die Kommission erarbeitet gemeinsam mit den Mitgliedstaaten einen Leitfaden, der die „Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts“ gemäß den EU-Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit klarer fasst. Er soll Ende 2013 vorgelegt werden. Danach haben Bürger, die nicht erwerbstätig sind, nur dann Zugang zum System der sozialen Sicherheit in einem anderen Mitgliedstaat, wenn sie ihren Lebensmittelpunkt tatsächlich in diesen Staat verlegt haben (wenn beispielsweise ihre Familie dort lebt).
  3. Die Mittel des Europäischen Sozialfonds sollen gezielter für soziale Inklusion genutzt werden.
  4. Der Austauschs bewährter Verfahren zwischen lokalen Behörden soll gefördert werden: Ende 2013 soll eine Studie erscheinen, in der die Auswirkungen der Freizügigkeit in sechs großen Städten analysiert wird und im Februar 2014 mit Bürgermeistern diskutiert werden.
  5. Die Anwendung der EU-Vorschriften über die Freizügigkeit soll in der Praxis sichergestellt werden, unter anderem durch ein Online-Fortbildungsmodul für Mitarbeiter lokaler Behörden.

Die Reaktion aus Deutschland auf das Papier der Kommission folgte prompt. Die Maßnahmen seien keinesfalls ausreichend, kritisierte der Innenminister. „Notfalls werden wir uns außerhalb der Strukturen der Europäischen Union multilateral verständigen müssen, um ein gemeinsames Vorgehen zu wählen“, drohte Hans-Peter Friedrich und befand sich damit in Gesellschaft von Großbritanniens Premierminister David Cameron. Justizkommissarin Viviane Reding legte Großbritannien daraufhin den Austritt aus der EU nahe, denn die Freizügigkeit sei nicht verhandelbar.

Derartige Verbalattacken helfen in der Sache jedoch nicht weiter. Die Sorgen der Kommunen sollten ernst genommen werden, aber die Lage auch nicht überdramatisiert werden. Eine konsequente Anwendung und Umsetzung der bestehenden Regeln und Austausch von guter Praxis könnte schon Einiges bewirken. Gefährlich und populistisch ist es jedoch, unter der Bevölkerung die Angst vor „Einwanderung in die Sozialsysteme“ zu schüren und en passant eines der wichtigsten Wesensmerkmale der EU, die Personenfreizügigkeit, aufs Spiel zu setzen.
Die Bemerkungen des Ministers sind allerdings auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass ab dem 1. Januar 2014 volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien gilt. Zuletzt war ab dem 1. Mai 2011 der deutsche Arbeitsmarkt vollständig für Bürger aus acht mittel- und osteuropäischen Ländern geöffnet worden, der große Ansturm auf den deutschen Arbeitsmarkt blieb allerdings aufgrund von Sprachbarrieren und des deutschen Ausbildungs- bzw. Bildungssystems aus.

Aktuell befasst sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der Frage, ob die Verweigerung von Arbeitslosengeld II (sogenanntes Hartz IV) für arbeitsuchende EU-Ausländer in Deutschland gegen Europarecht verstößt. Der Fall war dem EuGH vom Bundessozialgericht im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt worden. Der Ausschluss von EU-Ausländern könnte gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot verstoßen. Die Rechtsprechung in Deutschland ist dazu bisher uneinheitlich. Ende November hatte ein Gericht in Nordrhein-Westfalen einer rumänischen Familie Hartz-IV-Leistungen zugesprochen.

 



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