Lehren aus Lampedusa? - Anmerkungen zur Zukunft der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik

(Katrin Hatzinger)

Am 3. Oktober 2013 ist vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ein Boot mit mehr als 500 Menschen an Bord gesunken, mehr als 360 von ihnen, Kinder, Frauen und Männer sind ertrunken. Schätzungen zufolge liegt die Zahl der Toten im Mittelmeer zwischen 1988 und 2013 bei 19.000.
Auf ihrer Tagung vom 7. bis 13. November in Düsseldorf hat sich auch die Synode der EKD, ebenso wie viele Landessynoden, unter dem Eindruck der Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer mit der europäischen Flüchtling- und Einwanderungspolitik beschäftigt und folgenden Beschluss gefasst:

„Angesichts der unfassbaren menschlichen Tragödie, die sich vor unser aller Augen im Mittelmeer und an den Außengrenzen der EU abspielt, ist eine Neuausrichtung der europäischen Asylpolitik dringend geboten.
Seit Jahren engagieren sich die Kirchen gemeinsamen mit ihren Werken und ihren ökumenischen Partnern wie etwa der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa für ein Umdenken in der Europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik. Wir verweisen zudem auf die Erklärung der Konferenz Diakonie und Entwicklung anlässlich der Flüchtlingskatastrophen vor Lampedusa, das Wort der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland ‚Flüchtlingsaufnahme in Europa solidarisch gestalten‘ sowie den Beschluss der Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz ‚Europa braucht eine neue, humane Flüchtlings- und Einwanderungspolitik‘.
Die Synode bittet den Rat der EKD, sich gegenüber der Bundesregierung und den europäischen Institutionen dafür einzusetzen, dass

  1. ein effektives System der Seenotrettung mit klaren Zuständigkeiten insbesondere für Frontex und die nationalen Grenzschutzbehörden etabliert wird;
  2. mitgliedsstaatliche Regelungen, die die Seenotrettung durch Dritte unter Strafe stellen, aufgehoben werden;
  3. Schutzsuchenden Zugang zu einem fairen und effektiven Asylverfahren gewährt wird und menschenwürdige Aufnahmebedingungen geschaffen werden;
  4. Schutzsuchenden und Migranten legale Wege nach Europa eröffnet werden, um zu verhindern, dass Menschen sich Schleppern anvertrauen;
  5. ein Verfahren geschaffen wird, welches ein neues solidarisches Verteilungssystem und eine faire Verantwortungsteilung garantiert.“

Die Europäische Union hat auf das Drama mit der Berufung einer „Mittelmeer-Task-Force“ reagiert. Unter dem Vorsitz der Kommission hat die „Task-Force“ am 4. Dezember 2013 konkreten Maßnahmen vorgelegt, um den „Verlust von Leben im Mittelmeer zu verringern und die Bewältigung von Asyl- und Migrationsströmen“ zu verbessern. Die einzelnen Empfehlungen, die von den Europäischen Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel am 19. und 20. Dezember 2013 noch gebilligt werden müssen, sind allerdings nur bedingt geeignet, den Herausforderungen gerecht zu werden und zielen weitestgehend auf kurzfristige Maßnahmen ab. Nichtsdestotrotz lassen sich auch interessante Ansätze finden.

Zunächst setzt die „Task Force“ fast schon reflexartig auf Althergebrachtes, zum Beispiel mehr Grenzschutz: Frontex und das neue Grenzüberwachungssystem Eurosur (siehe nachfolgende Artikel) sollen genutzt werden, um Menschenleben zu retten. Notleidenden soll geholfen werden, indem die EU ihre Grenzkontrolleinsätze verstärkt und die Kapazität für das Aufspüren von Booten im Mittelmeer ausbaut. Angesichts der menschenrechtwidrigen Praxis an den Außengrenzen (Fälle von „Push-Backs“ nach Syrien oder in die Türkei), der schwierigen Verhandlungen um die einheitliche Auslegung der Pflicht zur Seenotrettung in der Frontex-Seegrenzen-Verordnung und aufgrund der Tatsache, dass im Rahmen von Eurosur ganz klar die Abwehr irregulärer Einwanderung im Vordergrund steht, mögen diese Vorschläge nicht überzeugen. Dazu kommt, dass die Rettung Schiffbrüchiger aufgrund unklarer Rechtlage und fehlender Mechanismen oft an der Frage der angeblich fehlenden Zuständigkeit scheitert. Positiv zu werten ist allein, dass der Kriminalisierung von Seenotrettern, also etwa Fischern oder Kapitänen von Handelsschiffen, eine klare Absage von der EU erteilt wird. Das war angesichts der italienischen Gesetzeslage überfällig.
Die EU kündigt außerdem mehr Geld an. Nach eigenen Angaben „stellt die Kommission insgesamt Mittel (einschließlich Soforthilfemittel) in Höhe von bis zu 50 Millionen Euro zur Verfügung. Um Italien zu unterstützen, wurden 30 Millionen Euro bereitgestellt, unter anderem für Grenzüberwachungsaktionen im Rahmen des Frontex-Mandats. Den anderen Mitgliedstaaten wurden 20 Millionen Euro zugewiesen, unter anderem für die Verbesserung ihrer Aufnahme-, Bearbeitungs-, Überprüfungs- und Registrierungskapazitäten.“

Das Europäische Asylunterstützungsbüro (EASO) soll außerdem die „unterstützte Bearbeitung“ von Asylanträgen voranbringen, das heißt Beamte der Mitgliedstaaten werden in Länder an den Außengrenzen entsandt, um zu helfen, Asylanträge „effizient und wirksam“ zu bearbeiten.

Eine weitere Maßnahme, die im Hinblick auf das Drama an den Außengrenzen immer wieder verlautbart wird, ist die Bekämpfung von Menschenhandel, Schmuggel und organisierter Kriminalität.
Erfreulich ist, dass die Kommission Resettlement, sprich die Neuansiedlung von Flüchtlingen, als Instrument für eine sichere Einreise in die EU nennt und die Mitgliedstaaten auffordert, sich mehr zu engagieren. 2014 plant sie dazu eine Konferenz mit dem UNHCR für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Syrien. Interessant liest sich auch, dass die Kommission, Möglichkeiten für eine „geschützte Einreise“ („protected entry“) in die EU prüfen möchte. So könnten Nicht-EU-Bürger von außerhalb der EU Asyl beantragen, ohne sich auf die gefährliche Reise in die EU begeben zu müssen. Dies würde nach Vorstellung der „Task Force“ einen Leitfaden für einen gemeinsamen EU-Ansatz für humanitäre Visa umfassen, aber auch die aus menschenrechtlicher Perspektive problematische gemeinsame Prüfung von Asylanträgen („joint processing“) außerhalb der EU. So oder so wird der Punktsicherlich ein wichtiges Thema im Rahmen der künftigen Agenda für die EU-Innenpolitik sein. Ganz im Einklang mit dem Synodenbeschluss der EKD liest sich die Forderung, dass die Mitgliedstaaten mehr legale Wege in die EU öffnen sollten und die bestehenden EU-Rechtsinstrumente umsetzen müssten.
Äußerst fragwürdig angesichts der Menschenrechtslage in den betreffenden Staaten ist hingegen der Vorschlag, dass Frontex künftig Mittelmeeranrainer, die nicht EU-Mitglieder sind, stärker an der Arbeit beteiligen soll. Ebenso problematisch ist, dass die Kommission weiterhin auf den Ausbau der Kooperation mit Drittstaaten setzt, um irreguläre Migration zu unterbinden. Kürzlich seien Mobilitätspartnerschaften mit Tunesien und Marokko abgeschlossen worden. Neue Dialoge über Migration, Mobilität und Sicherheit sollten mit weiteren Ländern des südlichen Mittelmeerraums, insbesondere mit Ägypten, Libyen, Algerien und dem Libanon, eingeleitet werden. Die grüne MdEP Ska Keller kritisierte deshalb: „Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Menschenhändler und -schmuggler verschiebt die EU ihre Grenzen nach Afrika.“

Eine weitere Empfehlung setzt darauf, schnelle und effektive Rückführung von Migranten auf menschenwürdige Weise zu garantieren, wobei der freiwilligen Rückkehr der Vorzug gegeben werden soll. Schließlich sollen Informationskampagnen auf die Gefahren der irregulären Migrationskanäle aufmerksam machen und über  legale Migrationsmöglichkeiten aufklären.

Ende 2014 läuft das sogenannte Stockholm-Programm aus, in dem die Prioritäten für eine gemeinsame Innen- und Justizpolitik festgelegt sind (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 129). Unter der Überschrift „Ein offenes und sicheres Europa - was kommt danach?“ hat die Kommission am 29. Oktober 2013 eine Konsultation zum Post-Stockholm-Prozess gestartet. Bis zum 21. Januar 2014 können sich interessierte Kreise mit ihren Stellungnahmen zu Wort melden, die in eine für März 2014 geplante Mitteilung der Kommission einfließen sollen.
Neue Gesetzgebungsvorschläge und damit die von Kirchen und Menschenrechtorganisationen gewünschte Neuausrichtung der Asyl- und Einwanderungspolitik wird es jedoch in absehbarer Zeit nicht geben. Zu tief sitzt die Angst, dass Populisten und Europaskeptiker diese Themen für ihre Zwecke ausschlachten könnten. Die schwierige Debatte um das Gemeinsame Europäische Asylsystem ist Vielen in der Kommission zudem noch sehr präsent. Ungern möchte man sich wieder in zähe Diskussionen mit den Mitgliedstaaten begeben, und riskieren, erreichte Mindeststandards aufzuweichen. Deshalb lautet das Motto der Stunde: Umsetzung. Es ist also erst einmal nicht mit neuen Gesetzesvorschlägen, etwa zu weiteren Reform der Dublin-Verordnung oder zu einem Gesamtansatz Migration zu rechnen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Kommission sich auf die Kontrolle der Implementierung der bestehenden Rechtsinstrumente konzentrieren und auf Information und Kommunikation des Aquis setzen wird.

Der Beschluss der EKD-Synode wird ein guter Leitfaden für die kirchliche Positionierung in der Debatte sein. Neben den genannten Punkten wird es in der Diskussion um die künftige Asylpolitik der EU darum gehen, sich für den Ausbau sicherer Zugangswege in die EU („protected entry“), die Stärkung des europäischen Resettlement-Programms und starke Menschenrechtsklauseln in Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten einzusetzen und der Externalisierung des Flüchtlingsschutzes eine klare Absage zu erteilen.

In der Einwanderungspolitik geht es zum einen darum, die Debatte durch Fakten zu versachlichen und Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und dumpfem Populismus einzudämmen. Benötigt wird eine umfassende europäische Einwanderungspolitik. Hier gibt es weiterhin viel Widerstand von den Mitgliedstaaten, deshalb müssen neue Instrumente im Wege von Pilotprogrammen getestet werden. Insbesondere muss der bestehende Aquis tatsächlich angewandt und über die einzelnen Rechtsinstrumente verständlich informiert werden. Eine besondere Rolle kommt hier der Familienzusammenführungsrichtlinie und der Daueraufenthaltsrichtlinie zu.
Alternativen zur Abschiebehaft und ein unabhängiges Abschiebe-Monitoring sollten gefördert werden. Schließlich müssen irreguläre Migranten Zugang zu grundlegenden Rechten und Dienstleistungen erhalten und die EU-Kommission muss Verstöße gegen EU-Recht konsequent ahnden.

Auch wenn der politische Wille derzeit nicht erkennbar ist grundsätzliche Änderungen an den bestehenden Rechtsinstrumenten durchzuführen, bleibt es wichtig, zum Beispiel über Alternativen zum Dublin-System zu diskutieren. Die Rechtsprechung aus Straßburg und Luxemburg wird hier hoffentlich auch ein Umdenken befördern.



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