Keine Experimente - Eine europa-politische Auslese aus dem Koalitionsvertrag

(Katrin Hatzinger)

Am 27. November 2013 war es soweit, der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wurde unter dem Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Folgenden soll er in ausgewählten Bereichen auf seine europapolitischen Aussagen hin vorgestellt werden.

Die 185-Seiten starke Vereinbarung enthält ein klares Bekenntnis zur europapolitischen Verantwortung Deutschlands: „Das europäische Einigungswerk bleibt die wichtigste Aufgabe Deutschlands“. Es ist ein bedeutendes Signal an die übrigen EU-Staaten, dass Deutschland auch in schwierigen Zeiten bereit ist, ein „Stabilitätsanker“ zu sein und sich der Erwartungen seiner Partner bewusst ist.

Im Sinne des Wortes des Rates der EKD „Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa“ betonen die Koalitionäre die Bedeutung „handlungsfähiger EU-Institutionen“, die Stärkung der demokratischen Legitimation und die Bedeutung eines starken Europäischen Parlaments. Auch die Stärkung eines bürgernahen und demokratischen  Europas entspricht der Auffassung des Rates der EKD, ebenso wie die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, „wonach die EU nur tätig wird, wenn und soweit ein Handeln der Mitgliedstaaten nicht ausreichend ist.“

Wie diese Anliegen allerdings konkret umgesetzt werden sollen, bleibt unklar. Auch die wichtige Frage, wie weitere Vertiefungsschritte hin zu einer echten politischen Union aussehen könnten und welche zusätzlichen Strukturreformen nötig sind, lässt das Papier offen. Das ist enttäuschend, werden doch in den nächsten Jahren wichtige Weichen für die Zukunft der EU gestellt. Deutschland sollte sich nicht  damit begnügen, den Status Quo zu erhalten, sondern vordenken und mitgestalten. Es gibt schließlich auch eine deutsche Verantwortung für das Schicksal der EU. Stattdessen werden diese Fragen ausgeklammert. Hinsichtlich des europäische Krisenmanagements lautet die Botschaft: „Business as usual“, alles soll weitergehen wie bisher. Die Mitgliedstaaten sollen das Sagen haben, wenn die Auflösung „der wechselseitigen Abhängigkeit von privater Verschuldung von Banken und öffentlicher Verschuldung von Staaten“ angegangen wird. Strittige Fragen, wie die nach einem von der SPD geforderten Schuldentilgungsfonds, werden gar nicht erst aufgeworfen.
 
Zu begrüßen ist hingegen, dass der Koalitionsvertrag an die dienende Funktion der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft erinnert und deshalb zu Recht für eine Banken- und Finanzmarktregulierung in der EU eintritt, die sicherstellt, dass „Akteure der Finanzmärkte nie wieder den Wohlstand von Staaten und Gesellschaft gefährden können“.

Erfreulich ist auch die klare Aussage im Vertrag, dass die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit prioritär zu behandeln ist und dass die Mittel im Rahmen der Beschäftigungsinitiative für junge Menschen „schnellstmöglich“ eingesetzt werden sollen. Darüber hinausgehende Solidaritätsmaßnahmen mit den am stärksten von Jugendarbeitslosigkeit betroffenen EU-Ländern lässt der Vertrag jedoch vermissen. Einzig ist im Rahmen von Jugendmobilität von der Gründung eines deutsch-griechischen Jugendwerks die Rede. Positiv hervorzuheben ist ebenfalls, dass der europäischen und internationalen Jugendarbeit ein hoher Stellenwert eingeräumt wird - insbesondere unter dem Fokus Austausch und Begegnung von jungen Menschen - auch derjenigen, die dabei bisher unterrepräsentiert sind. Die Ankündigung, dass im Rahmen der Umsetzung der EU-Jugendstrategie in Deutschland der Strukturierte Dialog mit der Jugend gestärkt werden soll  und damit die Partizipation junger Menschen an Politikgestaltung in Deutschland und Europa weiter verbessert wird, ist auch zu begrüßen. Dies gilt ebenso für das Bekenntnis zu einer eigenständigen Jugendpolitik.

Im Sinne europäischer und internationaler Mobilität ist die klare Unterstützung und Verbesserung des europäischen/internationalen Freiwilligendienstes zu begrüßen. Der Koalitionsvertrag betont mit der Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft und einer lebendigen europäischen Demokratie zudem die Wichtigkeit der europäischen Bürgerschaft für (junge) Menschen. Er setzt damit dem unter der Wirtschafts- und Finanzkrise  verstärkt aufgekommenem Verwertbarkeitsgedanken von jungen Menschen für den Arbeitsmarkt ein Gegenmodell entgegen. Es wird insgesamt erfreulich deutlich, dass „Jugend und Europa“ kein Nischenthema mehr ist.

Ideen zur weiteren Ausgestaltung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion lassen sich dem  Papier bedauerlicherweise nicht entnehmen. Zwar ist der Einsatz der Koalitionäre für die Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten, ihrer Regionen und Kommunen im Hinblick auf die Daseinsvorsorge zu begrüßen  ebenso wie die Stärkung des sozialen Dialogs auf EU-Ebene oder der Schutz von Beschäftigen vor „Ausbeutung und sittenwidrigen Arbeitsbedingungen“, aber innovative Ansätze, wie die soziale Dimension gestärkt werden könnte, sucht man leider vergeblich.

Im Hinblick auf den Beitritt der Türkei wollen die Koalitionäre die Beziehungen weiter vertiefen: Die Achtung der Menschenrechte wie Religions- und Meinungsfreiheit sollen dabei mit Recht zur Voraussetzung für weitere Fortschritte gemacht werden.
Die Vereinbarungen zur europäischen Asyl- und Migrationspolitik sind angesichts der politischen Herausforderungen enttäuschend übersichtlich ausgefallen, bieten aber durchaus Anknüpfungspunkte in der aktuellen politischen Debatte.

Der Koalitionsvertrag fordert größere Solidarität mit den Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen ein, die mit der Aufnahme und Versorgung der ankommenden Flüchtlinge oftmals überfordert sind. Diese Solidarität könnte durch die Einführung eines gerechten Verteilungsschlüssels für Flüchtlinge ganz konkret ausgestaltet werden, für den sich die Kirchen schon lange einsetzen. Zu begrüßen ist das Bekenntnis der Großen Koalition zur Achtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der Pflicht zur Seenotrettung bei Einsätzen der EU-Grenzschutzagentur Frontex auf dem Mittelmeer, das im Einklang mit den Forderungen der EKD-Synode steht. Erfreulich ist auch, dass Deutschland sich als Resettlement-Land begreift und das Neuansiedlungsprogramm verstetigen will.

Kritisch ist das Vorhaben der künftigen Bundesregierung zu bewerten, mit Hilfe von „Herkunfts- und Transitstaaten“ irreguläre Migration zu bekämpfen, Hier ist es mehr als fraglich, ob Staaten wie Libyen, Afghanistan oder Eritrea geeignete Kooperationspartner sind. Eine Verlagerung von Migrationskontrollen in Transit- oder gar Herkunftsländer kann nicht den Inhalt einer „Strategie für Migration und Entwicklung“ darstellen.

Schließlich ist es positiv, dass sich die Große Koalition gemeinsam mit dem UNHCR gegenüber anderen EU-Mitgliedstaaten für eine „gemeinsame europäische Initiative zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge“ engagieren will. Dabei kann sie auf die Unterstützung  der EKD und ihrer ökumenischen Partner zählen.

Positiv ist auch das Ziel der Großen Koalition, für einen wirksamen Emissionshandel auf europäischer Ebene einzutreten. Allerdings bleibt die getroffene Festlegung Deutschlands auf ein vergleichsweise wenig ambitioniertes EU-Klimaschutzziel von mindestens 40 Prozent Treibhausgasreduktion bis 2030 gegenüber 1990 sehr deutlich hinter den 55 Prozent zurück, die die EKD-Synode gefordert hat.

Die Reduzierung des Treibhausgasausstoßes muss eine EU-Priorität bleiben. Der Koalitionsvertrag betont das hohe Risikopotential der unkonventionellen Schiefergasförderung, dem sogenannten Fracking. Diese Einschätzung wird von den Kirchen geteilt. Es wäre zu begrüßen, wenn sich die neue Bundesregierung in diesem Sinne auch in die von der Europäischen Kommission geplante EU-Regelung zum Fracking einbringen würde.

Hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik betont der Vertrag den Vorrang des Zivilen und sieht die Rolle der EU beim Aufbau von Demokratie und rechtsstaatlichen Systemen.

Aus kirchlicher Sicht zu begrüßen ist auch, dass auf das „besondere Schutzbedürfnis von Kultur und Medien“ verwiesen wird, „insbesondere in der europäischen Rechtsetzung, bei EU-Beihilfefragen oder bei Freihandelsabkommen mit Drittstaaten,“ wie etwa aktuell bei den Verhandlungen zwischen EU und USA.

Es zeigt sich also in der Gesamtschau ein gemischtes Bild. Doch auch für diese Koalition gilt: Regierungen dürfen auch über das Vereinbarte hinaus Politik machen. Das wäre, gerade im Hinblick auf die Ausgestaltung der Europäischen Integration, zu hoffen.



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