Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - Neue Fahrt aufgenommen oder langfristig ausgebremst?

(Benjamin Sadler)

Am 16. Oktober 2013 veröffentlichte die Europäische Kommission den diesjährigen Fortschrittsbericht der Türkei. Obwohl der Bericht Verbesserungen im Bereich Justiz attestiert, haben nicht zuletzt die Auseinandersetzungen im Sommer um den Gezi-Park erneut Skepsis aufkommen lassen, ob das Land tatsächlich Fortschritte macht. Die Menschenrechtssituation stößt aufgrund der unverhältnismäßigen Maßnahmen gegen Demonstranten auf Kritik. Auch die Pressefreiheit sei in der Türkei erheblich eingeschränkt.

Die Lage hinsichtlich der Religionsfreiheit sei weiterhin problematisch. Aleviten und Anhänger nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften seien erheblicher Diskriminierung ausgesetzt. Nicht-muslimische Gemeinschaften haben dem Bericht zufolge weiterhin keine Rechtspersönlichkeit. Daraus folgten Probleme im Zusammenhang mit Grundstückserwerb, Gerichtsbarkeit, Finanzmittelbeschaffung und Anstellung von ausländischen Geistlichen. Außerdem würden nur für muslimische Moscheen Betriebskosten vom Staat übernommen. Die Gebets- und Versammlungshäuser der Aleviten, sogenannte Cemevi, seien darüber hinaus bis heute nicht als Ort des Gebets anerkannt, was Probleme bei der Neuerrichtung nach sich ziehe. Mit ähnlichen Problemen seien Protestanten und die Zeugen Jehovas konfrontiert. Ebenso wenig sei die Ausbildung von Geistlichen möglich. Positiv zu vermelden sei allerdings, dass der Religionsunterricht nunmehr mit neuen Schulbüchern abgehalten werde, die Informationen über Aleviten enthalten und die Teilnahme am muslimischen Religionsunterricht für Nicht-Muslime nicht mehr verbindlich sei.

Bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien sei die Lage in der Türkei verhältnismäßig positiv zu bewerten. Zwischen 400.000 und 600.000 Syrer seien registriert worden und erhielten einen 12 Monate gültigen Personalausweis, der den Zugang zu medizinischen und materiellen Hilfen ermögliche. Ein gutes Zeugnis wird der Türkei auch bei der Umsetzung der neuen Justizreform ausgestellt. Verfahren sind nun deutlich transparenter und haben sich merkbar verkürzt.

Der türkische EU-Minister Egemen Bağış weist in seiner Stellungnahme vom 19. Oktober die Kritik zur Gewaltanwendung während der Proteste im Sommer zurück. Gleichzeitig begrüßt er die positiven Aspekte des Fortschrittberichtsberichts.


Am 22. Oktober 2013 berieten die Mitgliedsstaaten über den Bericht und beschlossen, die Beitrittsverhandlungen fortzusetzen, indem Kapitel 22 („Regionalpolitik und Koordination der Strukturpolitischen Instrumente“) eröffnet wird. Zuletzt waren die Verhandlungen seit drei Jahren, auch wegen des Vorgehens gegen die Gezi-Demonstranten, unterbrochen gewesen.

Bereits seit 1999 hat die Türkei den Status eines Beitrittskandidaten. 2005 wurden die Verhandlungen offiziell begonnen und es ist nicht abzusehen, wann sie zu einem Abschluss finden. Der Zypernkonflikt ist so festgefahren wie eh und je. Auch die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern ist in nächster Zeit nicht absehbar. Reformen in Schlüsselbereichen könnten laut Erweiterungskommissar Füle vor allem durch Eröffnung der Verhandlungen zum Kapitel Justiz und Grundrechte voran getrieben werden.

Die Beitrittsverhandlungen bieten die Chance, die Situation in der Türkei zu verbessern. Ein Beitritt sollte jedoch erst in Betracht kommen, wenn Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, einschließlich der Religionsfreiheit, vollumfänglich gewährleistet sind.



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