Reine Symbolik? - Mitteilung der Kommission zur Stärkung der Sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion

(Susanne Herkommer / Benjamin Sadler / Katrin Hatzinger)

Am 2. Oktober 2013 hat die Europäische Kommission eine Mitteilung über die Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) veröffentlicht. Sie kommt damit der Aufforderung des Europäischen Rates vom Dezember 2012 und vom Juni 2013 nach, die Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) auf die Agenda zu setzen. In dem Bewusstsein, dass die Sozial- und Beschäftigungspolitik in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten liegt, beschränkt sich die Kommission im Wesentlichen darauf, die Einführung neuer „Scoreboards“ und Indikatoren im Rahmen des Europäischen Semesters, des jährlichen wirtschaftspolitischen Zyklus der EU, vorzuschlagen. Sie fordert mehr Solidarität und die Verbesserung der Mobilität von Arbeitskräften, außerdem eine Stärkung des sozialen Dialogs.

Mithilfe von Benchmarking und dem Austausch von bewährten Praktiken könne die soziale Dimension der WWU gestärkt und vertieft und eine stärkere Konvergenz zwischen den Mitgliedsstaaten erreicht werden. Die Kommission schlägt daher vor, das 2011 gegründete Verfahren bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht um soziale Indikatoren zu erweitern, die gemeinsam von Kommission, Rat und Parlament festgelegt werden.

Folgende vier Indikatoren sollen zur Anwendung kommen: die Erwerbsquote, der Anteil der Langzeitarbeitslosen, die Jugendarbeitslosigkeitsquote (inkl. Anteil der NEETs [„not in education, employment or training“]) sowie der Prozentsatz der von Armut und sozialer Exklusion Gefährdeten, ergänzt durch die Unter-Indikatoren Armutsgefährdungsquote, Quote der erheblichen materiellen Entbehrung und Anteil der in Haushalten mit niedriger Erwerbsintensität lebenden Personen

Die Kommission schlägt außerdem vor, einen Fortschrittsanzeiger („Scoreboard“) einzurichten, um wesentliche, für das ordnungsgemäße Funktionieren der WWU relevante Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales zu verfolgen. Es sollte „als analytisches Instrument dienen, das eine bessere und frühzeitigere Ermittlung gravierender beschäftigungs- und sozialpolitischer Probleme erlaubt“. Dafür sieht die Kommission folgende Indikatoren als relevant an: das Niveau und Änderungen der Arbeitslosenquote, die NEET-Quote, das reale verfügbare Haushaltseinkommen, das Armutsrisiko der arbeitenden Bevölkerung und die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung (S80/S20 - die Quote gibt das Verhältnis des gesamten Einkommens der reichsten 20 Prozent zu jenem der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung an).

Vorhandene Mechanismen sollten dabei helfen, die Ergebnisse des Fortschrittsanzeigers detailliert zu interpretieren. Sie sollen spezielle nationale Bedürfnisse feststellen, aber auch auf bewährte Praktiken hindeuten. Hierzu sollte auch ein europäisches Netzwerk der öffentlichen Arbeitsverwaltungen eingerichtet werden, um bessere Vergleiche und gegenseitiges Lernen zwischen den Mitgliedsstaaten zu ermöglichen.

Besonders unterstreicht die Europäische Kommission die Bedeutung der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Grenzen eines Mitgliedstaates, aber auch darüber hinaus. Der Arbeitsmarkt in der EU sei noch immer in hohem Maße segmentiert. Lediglich 2,6 Prozent der Unionsbürger seien in einen anderen Mitgliedsstaat umgezogen, um dort zu leben. Im Euroraum seien weniger als 4 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter Bürger eines anderen Mitgliedsstaates. Dies ließe sich auf kulturelle und sprachliche Hürden, aber auch auf die schlechte Unterstützung der Mobilität innerhalb der EU zurückführen. So fürchteten Arbeitnehmer um ihren Anspruch aus Sozialversicherungen oder seien schlicht nicht über Arbeitsplätze im Ausland informiert. Die Kommission möchte noch vor Ende 2013 einen Vorschlag zur Vereinfachung grenzübergreifender Stellenausschreibungen und Bewerbungen sowie zur besseren Unterstützung von Arbeitssuchenden und Arbeitgebern präsentieren.  Sie will im Jahr 2014 einen Vorschlag zur Änderung der Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorlegen, um die Zahlung von Arbeitslosengeld an Staatsbürger in anderen Mitgliedsstaaten sicher zu stellen. Kommission und Mitgliedsstaaten müssten auch größere Anstrengungen unternehmen, um freie Stellen und Arbeitssuchende europaweit zusammen zu bringen.

Die Kommission fordert mehr Verantwortung und Budgetdisziplin, aber auch größere Solidarität. Das Volumen des EU-Budgets, das innerhalb unterschiedlicher Fonds für die Bekämpfung sozialer Ungleichheit und Arbeitslosigkeit zur Verfügung stünde, müsse effektiv ausgenutzt werden. So sollten die Mitgliedstaaten im Zeitraum 2014-2020 mindestens 20 Prozent ihrer Mittelzuweisungen aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) für die Förderung der sozialen Inklusion und die Armutsbekämpfung einsetzen. Die derzeitige Struktur der WWU beruht auf nationalen Fiskalpolitiken, die sich innerhalb eines gemeinsamen Regelwerks entfalten. Langfristig fordert die Kommission ein unabhängiges Budget für die Euro-Zone. Dies könnte als Versicherung gegen das vergemeinschaftete Risiko ökonomischer Schwankungen fungieren und als anti-zyklisches Instrument Staaten in einer Rezession unterstützen. Eine solche Maßnahme darf die EU bisher aber weder im Euroraum noch in der gesamten EU durchführen, sie würde eine Vertragsänderung erfordern.

Schließlich betont die Kommission die Bedeutung der Sozialpartner für alle Ebenen der sozialen Marktwirtschaft. Ihre Einbindung in Debatten und Entscheidungsprozesse sei entscheidend. Dazu sollen vorhandene Foren besser genutzt und Konsultationen ins Europäische Semester eingebunden werden.

Die Reaktionen auf die Mitteilung waren überwiegend negativ. Hauptkritikpunkte der Gewerkschaften und NGOs waren die fehlenden Durchsetzungsinstrumente bei sozialen Ungleichgewichten sowie verfehlte Indikatoren, die soziale Schieflagen zu spät anzeigten. Gefordert wurde zudem etwa von Eurodiaconia, neben dem Dialog mit den Sozialpartnern auch den Dialog mit der Zivilgesellschaft zu stärken. FEANTSA (European Federation of National Organisations Working with the Homeless) kritisierte, dass in der Mitteilung der Kommission keine Indikatoren vorgesehen sind, die extreme Armut, wie etwa Obdachlosigkeit, messen. Die European Women‘s Lobby (EWL) wies darauf hin, dass im sozialen „Scoreboard“ keine genderspezifischen Daten erhoben würden, obwohl Frauen einem besonders hohen Armutsrisiko ausgesetzt seien. Kritik an der Mitteilung der Kommission kam auch vom Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD). Ihm zufolge lasse das Projekt die demokratische Legitimation missen, da das Parlament nicht direkt eingebunden ist.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hatte sich bereits vor der Veröffentlichung der Mitteilung vehement gegen die Aufnahme sozialer Indikatoren in den europäischen Monitoringprozess ausgesprochen. Die harten makroökonomischen Daten, die dort erhoben würden, könnten auf Krisen und Missstände hindeuten und dürften nicht durch soziale Indikatoren verwässert werden.

Aus kirchlicher Sicht ist das Papier ein kleiner Schritt in die richtige Richtung: Das soziale Europa steht auf der Tagesordnung der EU und es gibt einen politischen Gestaltungsspielraum, der aber bislang zu wenig ausgeschöpft wird. Damit setzt die Kommission das Zeichen, dass ihr die Relevanz der sozialen Fragen bewusst ist. Allerdings ist die Mitteilung äußerst technisch und detailliert. Das macht es schwierig, die Inhalte zu kommunizieren, zumal die Veröffentlichung keinen konkreten Gesetzgebungsvorschlag enthält. Zudem sind alle Vorschläge rechtlich unverbindlich und es fehlt an Sanktionsmechanismen, wenn Staaten von den „Scoreboard“-Indikatoren abweichen. Mehr Geld für Sozialpolitik gibt es auch nicht, dafür aber zum Teil bedenkenswerte Ideen.

Die Indikatoren bleiben jedoch interpretationsbedürftig, so lange nicht hinreichend konkretisiert wird, was ihre Anwendung für die einzelnen Mitgliedstaaten bedeutet. Tatsächlich wären echte Steuerungsinstrumente, die im Vorfeld ansetzen, von Nöten. Von daher erscheint es weiterhin interessanter, auf die länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission zu setzen und darauf hinzuwirken, dass die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten kritischer als bislang durch die Kommission kommentiert wird.

Die starke Betonung der Mobilität ist in Zeiten der Krise verständlich, darf aber nicht in eine Pflicht zur Mobilität münden. Dem Papier ist anzumerken, dass es im Vorfeld seiner Veröffentlichung interne Querelen zwischen den Kommissionsdienststellen gegeben hat. Ursprünglich sollte noch ein Vorschlag für eine europäische Arbeitslosenversicherung vorgelegt werden. Dazu kam es vorerst nicht. Der große Wurf ist nicht gelungen. Aber vielleicht ist tatsächlich augenblicklich in Sachen soziales Europa einfach nicht mehr drin. Immerhin hat die Bundesregierung nach anfänglicher Kritik den Vorschlägen für das „Scoreboard“ zugestimmt, auch wenn sie noch inhaltlichen und  methodischen Verbesserungsbedarf sieht.



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