Europa sind wir - Zur sich wandelnden Wahrnehmung europäischer Themen

(Katrin Hatzinger)

Am 12. April 2013 titelte die französische Zeitung Libération: "Rigueur - Keine Alternative?" Gleich auf der Titelseite, garniert mit einem Foto von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande in innigem Austausch, ging es um die Frage, ob die Austeritätspolitik in der EU wirklich alternativlos sei. Die Überschrift zeigt, die Krise verändert die Europa-Berichterstattung nationaler Medien. Europapolitik wird zunehmend als Innenpolitik wahrgenommen. Seit dem Ausbruch der Krise im Jahr 2008 hat sich die Aufbereitung und Platzierung europäischer Themen in den deutschen Medien, aber eben auch in den Medien der anderen EU-Staaten, deutlich gewandelt.

Nahm man beispielsweise in Deutschland die ständigen Regierungswechsel in Italien noch vor wenigen Jahren als Bestandteil südländischer Folklore eher beiläufig zur Kenntnis und hakte die Steueraffären französischer Politiker achselzuckend ab, so ist es nun auch von deutschem Interesse, wer in Italien mit welchen Inhalten die Regierung stellt und ob in Frankreich eine stabile Regierung am Ruder ist oder nicht. Denn mittlerweile ist es - außer vielleicht den Anhängern der Parteineugründung "Alternative für Deutschland" - jedermann bewusst geworden, wie eng die Länder der Euro-Zone durch die Gemeinschaftswährung und den Binnenmarkt wirtschaftlich, aber auch politisch miteinander verwoben ist. Politische Entscheidungen in Paris, Rom, Helsinki, Den Haag oder Madrid gehen uns damit alle an und wirken sich auch auf die EU-Staaten aus, die noch nicht dem Euro beigetreten sind.

Die gewachsene Aufmerksamkeit für die Situation in den anderen EU-Ländern hat aber auch den Effekt, dass sie gerade uns Deutschen immer wieder verdeutlich, wie glimpflich wir bislang durch die Krise manövriert sind. Deutschland hat sich bislang erstaunlich robust und unbeeindruckt von den politischen und wirtschaftlichen Erosionen in unserer näheren und weiteren Nachbarschaft erwiesen. So beschreibt die Süddeutsche (Ausgabe Nr. 70 vom 23./24. März 2013) treffend, die Krise sei für die meisten Deutschen "nicht (be-)greifbar". Dabei tue uns Deutschen ein "Weckruf", wie die Pleite der zyprischen Banken, gelegentlich ganz gut. Tatsächlich ist die Krise noch lange nicht überstanden und wird auch von uns noch einiges abverlangen.
Doch wie hat sich eigentlich vor diesem Hintergrund die Rezeption europäischer Themen in evangelischen Gremien in den letzten Jahren entwickelt? Ist auch dort eine Art Europäisierung auszumachen und welche Rolle spielt die Krise?
Im Kontext kirchlicher Gremienarbeit tauchte das Thema "Europa" lange Zeit fast ausschließlich im Hinblick auf europäische Flüchtlingspolitik oder in ökumenischen Zusammenhängen auf und war, wenn überhaupt, oft nur in Fachzirkeln oder bei Experten in Fragen der EU-Projektarbeit präsent. Erfreulicherweise beginnt sich mittlerweile die Erkenntnis, dass Europa ein Querschnittsthema ist, zunehmend auch in den Strukturen der EKD durchzusetzen.

Im Kirchenamt der EKD in Hannover laufen die Fäden hinsichtlich europapolitischer und ökumenischen Themen in der Steuerungsgruppe "Europa-fragen" zusammen. Sie ist ein regelmäßig tagender Ausschuss des Rates der EKD mit der Aufgabe, sich intensiver als in den sonstigen Gremiensitzungen möglich, über grundlegende politische und ökumenische Fragen der Europathematik zu informieren und auszutauschen. Die Steuerungsgruppe begleitet die Bearbeitung der für die EKD europarechtlich und europapolitisch relevanten Fragestellungen und befördert durch ihre Zusammensetzung die umfassende Meinungsbildung in den verschiedenen EKD-Gremien.

Um ein abgestimmtes Handeln mit den Gremien zu gewährleisten, gehörten der Steuerungsgruppe von Anfang an die drei hauptamtlich mit Europafragen Befassten des Kirchenamts, der juristische Stellvertreter des Bevollmächtigten sowie die Dienststellenleiterin des EKD-Büros in Brüssel, dazu zwei Ratsmitglieder und zwei Vertreter der Kirchenkonferenz an. Seit 2010 sind die Vorsitzende des Europaausschusses der Synode sowie ein weiteres Mitglied des Europaausschusses ständige Gäste der Steuerungsgruppe. Der Vorsitz der Steuerungsgruppe liegt seit 2011 bei Landesbischof Ottfried July.

Seit dem Ausbruch der Krise hat sich der Rat der EKD intensiv mit der Finanzmarkt-, Staatsschulden- und Eurokrise befasst. Durch den Ratsvorsitzenden wurde insbesondere die soziale Dimension der Krise immer wieder thematisiert. Deutlich sprach er sich etwa für eine stärkere Finanzmarktregulierung und die Finanztransaktionssteuer aus und unterstützte den Vorschlag der EU-Kommission nach einer Jugendgarantie (siehe nachfolgender Artikel). Im Oktober 2012 verabschiedete der Rat zudem ein Wort zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 141). Der Rat ist der festen Überzeugung, dass es auch an den Kirchen ist, den Prozess der europäischen Integration zukunftsfähig zu halten, Zeichen der Ermutigung und der Hoffnung zu setzen.

Auch im Kirchenparlament, der EKD-Synode, hat das Europathema mittlerweile einen festen Platz. Der Europaausschuss der Synode befasst sich regelmäßig mit einem breiten Spektrum von EU-Themen und hat im letzten Jahr auf der EKD-Synode in Timmendorfer Strand u. a. einen Beschluss zur Stärkung des europäischen Miteinanders und zur Rolle der Kirchen in der europäischen Regionalpolitik beraten und eingebracht (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 141). Im Sinne des eingangs postulierten Verständnisses von Europapolitik als Innenpolitik wird zunehmend auch auf der Synode über EU-Themen öffentlich debattiert.

Auch in den Kammern des Rates der EKD wird die europäische Dimension in den veröffentlichten Texten zunehmend deutlich, ob es sich um die Finanzmarktkrise, die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, Flüchtlingsschutz oder friedensethische Fragen handelt. Ohne einen Blick über die deutschen Grenzen hinaus werden kaum noch evangelische Positionsbestimmungen vorgenommen.

Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag spielt das Thema Europa erfreulicherweise in immer größerem Ausmaß eine Rolle. Auf dem kommenden Kirchentag im Mai in Hamburg wird z. B. in einer Podienreihe an drei aufeinanderfolgenden Tagen über europäische Flüchtlingspolitik, Solidarität in Europa und die europäische Identität debattiert.

Nicht zu unterschätzen ist aber weiterhin die persönliche Europa-Erfahrung, sei es durch einen Besuch vor Ort im EKD-Büro und bei den EU-Institutionen in Brüssel oder vermittelt durch europäische Projektmittel. Hier leistet die "Servicestelle EU-Förderpolitik/-projekte" im EKD-Büro Brüssel einen wichtigen Beitrag. Nach rund anderthalbjähriger Tätigkeit lässt sich bereits feststellen, dass durch die konkrete Beratungstätigkeit, die Vermittlung europäischer Partner oder die Entwicklung einer Projektidee zu einem europapolitischen Thema das Interesse an Europa auf landeskirchlicher Ebene, bei evangelischen Akademien und diakonischen Einrichtungen zunimmt. Darüber hinaus ist ein aktives Netzwerk Europainteressierter entstanden und auch die Arbeit der Dienststelle insgesamt, die oft abstrakt und wenig greifbar erscheint, rückt plötzlich in den Fokus kirchlichen Interesses. Der deutsche protestantische Blick auf Europa beginnt sich also zu schärfen, langsam, aber spürbar, und das ist gut so.



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