EGMR: Kirchen dürfen Loyalität von Religionslehrern verlangen

(Susanne Herkommer)

In seinem Urteil vom 12. Juni 2014 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die Nichtverlängerung des Arbeitsvertrags eines verheirateten katholischen Priesters als Religionslehrer an einer staatlichen Schule nach der Veröffentlichung seiner Familienverhältnisse und seiner Mitgliedschaft in einer kirchenkritischen Bewegung legitim und verhältnismäßig war.

Die Nichtverlängerung des Vertrags durch das spanische Bildungsministerium auf Grundlage des Entzugs der Lehrerlaubnis durch die katholische Kirche sei durch die von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützte Autonomie der Kirche gedeckt (Artikel 9 EMRK) und verstoße nicht gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK). Kirchen dürften von ihren Religionslehrern besondere Loyalität in Bezug auf ihre Lehre verlangen.

Der Kläger, Herr Fernández Martínez, war 1961 zum katholischen Priester ordiniert worden. 1984 beantragte er beim Vatikan die Befreiung vom Zölibat, erhielt darauf jedoch zunächst keine Antwort. 1985 heiratete er in einer zivilen Zeremonie und bekam mit seiner Ehefrau in der Folge fünf Kinder. Seit 1991 unterrichtete er im Rahmen eines jährlich zu verlängernden Vertrags katholische Religion und Ethik an einer staatlichen Schule. Im November 1996 veröffentlichte die regionale Zeitung „La Verdad" einen Artikel über die „Bewegung für einen freiwilligen Zölibat", in dem der Kläger sich als aktives Mitglied offenbarte. Der Artikel gab Kritik verschiedener Mitglieder an den Positionen der Kirche zu Abtreibung, Scheidung, Sexualität und Empfängnisverhütung wieder und war mit einem Bild des Klägers und seiner Familie illustriert. 1997 wurde Herr Fernández Martínez durch den Vatikan per Bescheid vom Zölibat befreit und gleichzeitig aus allen Rechten und Pflichten, die mit seinem Status als Geistlicher verbunden waren, entlassen. Der Bescheid wies daneben darauf hin, dass der Kläger nicht mehr zur Unterrichtung katholischer Religion an staatlichen Schulen berechtigt sei, es sei denn, der Ortsbischof entscheide anderweitig, und vorausgesetzt, es gebe keinen „Skandal". Der Bischof von Cartagena teilte daraufhin dem Bildungsministerium mit, der Lehrauftrag des Klägers solle nicht verlängert werden. Das Ministerium kam – entsprechend dem Abkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und Spanien aus dem Jahr 1979 – diesem Wunsch nach und lehnte eine Verlängerung ab.

Im Dezember 2007 reichte Herr Fernández Martínez vor dem EGMR Klage ein, insbesondere unter Berufung auf Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben (Artikel 8 EGMR).

Die Große Kammer wies die Klage am 12. Juni 2014 in einer knappen Entscheidung von neun gegen acht Stimmen ab. Die Mehrheit der Richter kommt nach einer Abwägung zwischen dem Recht auf Privat- und Familienleben des Klägers und der aus der Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK) folgenden Autonomie der katholischen Kirche zu dem Ergebnis, dass die Nichtverlängerung des Arbeitsvertrags durch das Ministerium keine Verletzung von Artikel 8 EMRK darstellt.

Die Richter sind der Auffassung, dass die Entscheidung des Ministeriums, den Vertrag nicht zu verlängern, das legitime Ziel verfolgte, die Rechte und Freiheiten der katholischen Kirche zu wahren, insbesondere die Autonomie hinsichtlich der Auswahl der Personen, die zur Unterrichtung von katholischer Religionserziehung befähigt sind. Die Autonomie der Kirchen wird vom Gerichtshof als Herzstück der in Artikel 9 EMRK garantierten Religionsfreiheit betont. Das organisatorische Leben der Kirchen müsse geschützt sein, da ansonsten auch alle anderen Aspekte der individuellen Religionsfreiheit in Gefahr gerieten. Artikel 9 EMRK gestehe dem Einzelnen kein Recht auf Dissens innerhalb einer Religionsgemeinschaft zu. Bei Uneinigkeit zwischen einer Religionsgemeinschaft und einem ihrer Mitglieder könne die Religionsfreiheit des Einzelnen durch den freiwilligen Austritt aus der Religionsgemeinschaft ausgeübt werden. Der Respekt der Autonomie der Religionsgemeinschaften durch den Staat bedeute, dass der Staat das Recht der Religionsgemeinschaften akzeptiere, auf kritische Bewegungen zu reagieren und nicht als Schiedsrichter zwischen Religionsgemeinschaften und ihren Abweichlern agiere. Das Recht auf Autonomie schließe es aus, dass der Staat eine Religionsgemeinschaft verpflichten könne, ein Individuum aufzunehmen oder auszuschließen oder jemanden mit einer bestimmten religiösen Aufgabe zu betrauen. Religionsgemeinschaften könnten einen gewissen Grad an Loyalität von den Personen verlangen, die für sie arbeiten oder sie repräsentieren.

Der Gerichtshof geht davon aus, dass der Kläger durch die wiederholte Unterzeichnung der Verträge zur Erteilung von Religionsunterricht wissentlich und freiwillig eine besondere Loyalitätspflicht gegenüber der katholischen Kirche akzeptiert hat, die sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in gewissem Maße eingeschränkt hat. Mit der Veröffentlichung des Artikels über seine Familienverhältnisse und seine Mitgliedschaft in der Protestbewegung habe er das Vertrauensverhältnis zerstört, das für die Erfüllung seiner beruflichen Pflichten erforderlich war. Als Priester und ehemaliger Leiter eines Priesterseminars hätten ihm die Loyalitätspflichten bekannt sein müssen.



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