Schluss mit dem Verschiebebahnhof für Flüchtlinge? Alternativen zum Dublin-System

(Katrin Hatzinger / Susanne Herkommer)

Am 26. Juni 2014 hat die Europäische Kommission eine Änderung der Dublin-Verordnung vorgeschlagen. Künftig wäre danach grundsätzlich derjenige Mitgliedstaat für die Bearbeitung von Asylanträgen unbegleiteter Minderjähriger zuständig, in dem der Antrag gestellt wird und in dem sich der Minderjährige aufhält. „Mit unserem Vorschlag würde gewährleistet, dass die Minderjährigen im Dublin-Verfahren immer im Vordergrund stehen und nicht unnötig zwischen den Mitgliedstaaten hin- und hergeschoben werden", so die zuständige Kommissarin Cecilia Malmström. Dieser Ansatz könnte Vorbildcharakter für eine generelle Dublin-Reform haben, die aufgrund der anhaltenden Praxisprobleme mit der Zuständigkeitsordnung weiterhin geboten erscheint. In den strategischen Leitlinien des Europäischen Rates zur Zukunft der Justiz- und Innenpolitik vom 27. Juni 2014 (siehe nachfolgender Artikel) ist eine Reform des Dublin-Systems nicht explizit angesprochen. Es wird jedoch die Pflicht zur Solidarität und zu einer gerechten Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten betont. Dies könnte einen Anknüpfungspunkt für ein Überdenken des derzeitigen Systems in den nächsten Jahren bieten.

 

Das sogenannte Dublin-System regelt die Zuständigkeit unter den Mitgliedstaaten für die Durchführung von Asylverfahren. Im Jahr 2013 wurde eine überarbeitete Fassung der Dublin-Verordnung verabschiedet (Dublin-III-Verordnung). Weiterhin ist nach dem Verursacherprinzip in der Regel der Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig, der die Einreise des Asylsuchenden veranlasst hat (etwa durch Ausstellung eines Visums) oder den illegalen Grenzübertritt nicht verhindert hat. Stellt der Asylsuchende in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag, kann dieser ohne sachliche Prüfung abgelehnt und eine Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat veranlasst werden. Individuelle Bedürfnisse der Asylsuchenden und Verbindungen, die eventuell bereits zu einem bestimmten Mitgliedstaat bestehen, bleiben in der Regel unberücksichtigt.

 

Aufgrund der Regel sind Mittelmeeranrainerstaaten überproportional belastet und überfordert. Das Zuständigkeitskriterium der „illegalen Einreise" führt zu immer strengeren Grenzkontrollen in den südlichen Mitgliedstaaten, wobei es immer wieder zu sogenannten Push-Backs kommt. Zudem funktioniert das Dublin-System in der Praxis nicht. Nur ein kleiner Teil der sogenannten Dublin-Verfahren wird durch tatsächliche Überstellungen an den nach der Verordnung zuständigen Mitgliedstaat abgeschlossen. 2013 folgte z. B. in nur 13,4 Prozent der deutschen Übernahmeersuchen eine entsprechende Überstellung. Insbesondere löst das derzeitige Dublin-System die Probleme, die es einst beheben sollte, nicht: Große Gruppen von Asylsuchenden „wandern" weiter durch Europa, ohne dass sie eine Chance auf eine faire und effektive Überprüfung ihres Schutzgesuchs bekommen. Dabei stellen viele Schutzsuchende in mehreren Mitgliedstaaten einen Asylantrag, was für die Mitgliedstaaten einen enormen bürokratischen Aufwand bedeutet.

 

Teils wird vertreten, bereits eine konsequente Umsetzung der neuen Dublin-III-Verordnung, die in Deutschland ab dem 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist, könnte die aufgezeigten Schwachstellen größtenteils beheben. Ohne Dublin hätten viele Schutzsuchenden zudem noch weniger Rechte und es gebe noch weniger Veranlassung für die Mitgliedstaaten, sich für funktionierende Asylsysteme in anderen EU-Mitgliedstaaten zu engagieren. Die mit der Dublin-III-Verordnung vorgenommenen Verbesserungen sind zu begrüßen, ändern jedoch nichts an den bestehenden Strukturmängeln des Dublin-Systems. Auch ist die vollständige Umsetzung der Dublin-III-Verordnung und des restlichen Asyl-Acquis in einer Reihe von Mitgliedstaaten unter anderem aufgrund der Wirtschaftskrise in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Daher erscheint ein grundsätzliches Umdenken geboten. In der Debatte um eine neue Zuständigkeitsordnung für Asylverfahren in der EU werden im Wesentlichen zwei Alternativen diskutiert:

 

Zum einen ist ein System der freien Wahl des Aufnahmestaats durch den Asylsuchenden im Gespräch. So würde den individuellen Bedürfnissen des Asylsuchenden und bereits bestehenden familiären, kulturellen und sozialen Verbindungen in einem Mitgliedstaat Rechnung getragen. In einem Memorandum vom März 2013 setzen sich die Diakonie Deutschland, der Paritätische Bundesverband, die Arbeiterwohlfahrt, der Jesuitenflüchtlingsdienst, Pro Asyl, der Deutsche Anwaltverein und die Neue Richtervereinigung für dieses System ein, in dem derjenige Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig wäre, in dem der Asylsuchende seinen ersten Antrag stellt. Der Ersteinreisestaat wäre verpflichtet, dem Asylsuchenden die Weiterreise in den Mitgliedsstaat seiner Wahl in einem geordneten Verfahren zu erlauben. Denkbar wäre etwa die Ausstellung einer schriftlichen Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender, mit der dieser weiterreisen kann. Das „Free-Choice"-Modell in Kombination mit diesem „Laissez-Passer"-Papier wäre nach dieser Auffassung für die Flüchtlinge die beste Lösung und würde das bürokratisches System eines Verschiebebahnhofs für Flüchtlinge ablösen, die von dem einem in den anderen Staat abgeschoben werden. Da Schutzsuchende bei der Wahl des Mitgliedstaates neben den Anerkennungschancen auch berücksichtigen würden, ob für sie Integrationschancen bestehen (Sprachkenntnisse, familiäre und kulturelle Bindungen, Vorhandensein einer Community), würden die Kosten für staatliche Integrationsmaßnahmen erheblich reduziert werden. Damit würde dieses sog. „Free-Choice"-Verfahren die Sekundärmigration reduzieren und hätte damit auch aus staatlicher Sicht Vorteile. Um eine ungleichmäßige Belastung der Mitgliedstaaten durch dieses System auszugleichen, müsste eine finanzielle Kompensation für die aufnehmenden Mitgliedstaaten aus den EU-Mitteln für den Asyl-,
Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) vorgesehen werden. Dies würde auch einen Anreiz für den Aufbau guter Aufnahmebedingungen schaffen. Diese Option wird jedoch insbesondere von staatlicher Seite kritisch gesehen. Einerseits wird eine sehr ungleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge befürchtet, die trotz finanzieller Kompensation zur Überlastung einiger Mitgliedstaaten führen würde. Auch wird der bürokratische Aufwand insbesondere bei der praktischen Umsetzung des Systems der finanziellen Kompensation kritisiert.

 

Als weitere Alternative zum derzeitigen System wird ein europäischer Verteilungsschlüssel für Asylsuchende erwogen. Der Vorschlag, der maßgeblich von der vormaligen deutschen Europaabgeordneten Nadja Hirsch (FDP) entwickelt wurde, basiert auf einer Quote, die sich nach dem Bruttoinlandsprodukt und der Bevölkerungsstärke der einzelnen Mitgliedstaaten richtet. Das System orientiert sich am deutschen „Königssteiner Schlüssel", der für die Verteilung der Asylsuchenden auf die Bundesländer angewendet wird. Als zusätzliche Kriterien werden u. a. auch die flächenmäßige Größe und die Arbeitslosenquote der Mitgliedsstaaten vorgeschlagen. Zum Teil wurden auch Kriterien wie familiäre und kulturelle Bindungen der Schutzsuchenden als Kriterium für eine Verteilung diskutiert. Vorteil des Systems wäre, dass kein Mitgliedstaat durch hohe Aufnahmezahlen überproportional belastet würde. Allerdings würde das System einen enormen bürokratischen Aufwand bedeuten und die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen fänden nicht hinreichend Berücksichtigung. Grundsätzlich sind die mit der Dublin-III-Verordnung vorgenommenen Verbesserungen zu begrüßen. Doch ist die vollständige Umsetzung der Verordnung und des Asyl-Acquis in einer Reihe von Mitgliedstaaten u. a. aufgrund der Wirtschaftskrise in absehbarer Zeit realistischer Weise nicht zu erwarten. Daher erscheint eine Debatte über Alternativen dringend angebracht.

 

Nach dem Willen der EU-Kommission soll das Dublin-System 2015 evaluiert und ein Systemwechsel überprüft werden.



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