„Europa nach der Wahl – Business as usual oder echter Neuanfang?“

(Katrin Hatzinger)

Mittlerweile scheinen die Europawahlen vom 22.-25. Mai 2014 schon wieder in weite Ferne gerückt. Stattdessen steigt in Brüssel die Spannung hinsichtlich der Verteilung der Posten in der neuen Kommission, die ab dem 1. November ihre Arbeit aufnehmen soll. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker möchte die Kandidatinnen und Kandidaten Anfang September der Öffentlichkeit vorstellen. Deutschland schickt erneut Günther Oettinger ins Rennen. Allerdings mangelt es aktuell noch an der Ausgewogenheit zwischen Männern und Frauen. Außerdem hatte Belgien aufgrund der derzeit laufenden Regierungsbildung Ende August immer noch keinen Kandidaten für das Kommissarsamt benannt.

 

Doch bevor es um die Politik der kommenden fünf Jahre gehen soll, lohnt sich ein Blick zurück. Zunächst die Fakten:

 

Die Wahlbeteiligung in der EU lag dieses Mal bei insgesamt 43,09 Prozent und hat damit im Vergleich zu 2009 leicht zugenommen. In einigen osteuropäischen Ländern ließen sich jedoch kaum Bürgerinnen und Bürger an die Urnen bewegen. Den Negativrekord hält dabei unangefochten die Slowakei. Dort gaben nur 13 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Aber auch in Tschechien mit 18,2 Prozent und in Polen mit 22,7 Prozent war die Wahlbeteiligung sehr niedrig.

 

Als Sieger ging das Parteienbündnis der Europäische Volkspartei (EVP), dem die Union angehört, aus den Wahlen hervor mit 29,4 Prozent (221 Sitze von 751). Die Sozialisten und Demokraten (S&D) erreichten 25,2 Prozent (191 Sitze).

In Deutschland mobilisierten die Wahlen 48,1 Prozent der Wahlberechtigten zum Urnengang. Damit ist im Vergleich zu 2009 ein Anstieg um knapp 5 Prozent bei der Wahlbeteiligung festzustellen. In Deutschland galt aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 145) dieses Mal keine Zugangshürde für die Parteien, so dass erstmals auch viele kleinere Parteien in das Europäische Parlament (EP) einzogen. Die Union schnitt in Deutschland mit 35,2 Prozent am besten ab. Allerdings hatte die CSU in Bayern ein historisches Tief zu beklagen. Die SPD hingegen legte erkennbar zu und kam auf 27,3 Prozent der Stimmen. Die Grünen verloren leicht und erreichten 10,7 Prozent, während die Linke sich bei 7,4 Prozent einpendelte. Die FDP verlor drastisch und kam nur noch auf 3,4 Prozent. Die Alternative für Deutschland (AfD) erreichte 7 Prozent und kann damit sieben von den 96 deutschen Abgeordneten ins neue EP entsenden. Sie erreichte vor allem in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und geringer Wirtschaftskraft hohen Zuspruch. Wie die Analyse zeigt, ist ihre Wählerschaft bunt gemischt. Ehemalige Linke finden sich hier ebenso wieder wie vormalige Unionswähler, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale.

 

Darüber hinaus errangen die Freien Wähler, die Piraten, die rechtsextremistische NPD, die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Familienpartei, die Tierschutzpartei und die PARTEI jeweils ein Mandat für das Europaparlament. Damit werden 14 Parteien aus Deutschland Abgeordnete nach Straßburg bzw. Brüssel entsenden.

 

Europäisch betrachtet war ein starker Zuwachs am rechten Rand des politischen Spektrums zu verzeichnen. So erreichte der Front National (FN) in Frankreich unter Marine Le Pen 25,4 Prozent; 19 Prozentpunkte mehr als 2009. Bei jungen Menschen unter 35 Jahren sammelte die rechtspopulistische Partei sogar etwa 30 Prozent der Stimmen ein. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) kam auf 26 Prozent. Die Dänische Volkspartei landete bei 26,6 Prozent der Stimmen und fuhr damit vor den Sozialdemokraten den Wahlsieg ein. In Großbritannien brüskierte die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (UKIP), die für einen EU-Austritt Großbritanniens eintritt, mit knapp 29 Prozent die etablierten Parteien. In Griechenland wiederum holte die radikale Linke (Syriza) 26,5 Prozent der Stimmen.

 

Nach den Wahlen wurde in den europäischen Parteienbündnissen die Rolle des bzw. der Fraktionsvorsitzenden neu vergeben. Aktuell gibt es im EP sieben Fraktionen. Dabei sind wieder einige Deutsche an führender Stelle vertreten. So wurde der CSU-Abgeordnete Manfred Weber zum Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei (EVP) bestimmt. Die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten (S&D) führt der Italiener Gianni Pittella von der Partito Democratico an. Der ehemalige belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt von den Liberalen ist Fraktionschef der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE). Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) wird von dem Briten Syed Kamall von den britischen Konservativen angeführt. Die rechtskonservative AfD gehört im Europaparlament künftig zur ECR, der neben den Tories auch die Wahren Finnen und die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit angehört. In der Fraktion der Vereinten europäischen Linken/Nordischen grünen Linken (GUE/NGL) hat die deutsche Linke Gabi Zimmer das Sagen. Bei den Grünen/Europäische Freie Allianz teilen sich nach alter Tradition zwei Abgeordnete den Vorsitz: die Deutsche Rebecca Harms und der Belgier Philippe Lamberts. Der Parteivorsitzende der UKIP, Nigel Farage, steht gemeinsam mit dem Italiener David Borelli von Beppe Grillos „Fünf-Sterne-Bewegung“ der Fraktion von Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFD) vor. Die Bestrebungen des FN und der Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders zusammen mit anderen rechtspopulistischen Parteien wie der FPÖ, der italienischen Lega Nord und dem belgischen Vlaams Belang eine eigene Fraktion zu bilden, sind im Juni 2014 vorerst gescheitert. Dabei waren es wohl v. a. Vorbehalte des FN und der PVV gegenüber der polnischen Partei Kongress der neuen Rechten (KNP), die ein Zustandekommen einer gemeinsamen Fraktion verhinderten. Der KNP-Chef war u. a. mit der Forderung nach einer Abschaffung des Wahlrechts für Frauen und homophoben Äußerungen in Erscheinung getreten. Zur Bildung einer Fraktion im Europaparlament müssen sich Abgeordnete aus mindestens sieben der 28 EU-Mitgliedstaaten zusammenschließen. Der Fraktionsstatus ist begehrt, bietet er doch mehr Redezeit und eine größere finanzielle Unterstützung. Dementsprechend zeigte sich Wilders auch optimistisch, dass die Fraktionsbildung zu einem späteren Zeitpunkt noch gelingen werde.

 

Wer nun erwartet hat, dass nach den Wahlen eine längere Phase der Analyse und kritischen Selbstreflexion bei den etablierten Parteien einsetzen würde, sah sich getäuscht. Schon bei der Interpretation der Wahlbeteiligung schieden sich die Geister. Während z. B. der liberale Spitzenkandidat für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten, Guy Verhofstadt, die mit 43,09 Prozent relativ hohe Wahlbeteiligung als positives Zeichen für Europa wertete, kam der Brüsseler Think Tank CEPS (Center for European Policy Studies) zu einem ganz anderen Fazit. Die relative hohe Wahlbeteiligung würde vielmehr die Wut der Bürger und die Ablehnung des europäischen Projekts artikulieren, so die Analyse. Nur aufgrund der vielen Protestwähler habe die Beteiligung nicht weiter abgenommen. Es sind also durchaus Antworten gefragt, wie mit den EU-kritischen Wählern und den anti-europäischen Parteien umzugehen ist, deren Anzahl im Vergleich zur letzten Legislaturperiode noch einmal zugenommen hat. Ein „Weiter so" wäre ein Zeichen der Ignoranz gegenüber der Verunsicherung und des Unmuts bei vielen Wählerinnen und Wählern. Klar ist allerdings auch, dass die beiden großen Fraktionen EVP und S&D noch enger zusammenrücken werden, um stabile Mehrheiten im EP zu erhalten.

 

Erfreulicherweise hatten in Deutschland extremistische Kräfte keine nennenswerte Chance und die CSU wurde sogar, wie manch einer schadenfroh konstatierte, für ihren populistischen Europawahlkampf mit herben Stimmverlusten abgestraft. Über den Umgang mit der AfD ist man sich innerhalb der etablierten Parteien, am deutlichsten sichtbar in der CDU, immer noch nicht ganz einig. Dass nun auch die extremistische NPD einen Abgeordneten im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des EP platziert hat, bleibt zudem ein Stein des Anstoßes.

 

Eine vertiefte Wahlanalyse fand aber auch deshalb in der Öffentlichkeit kaum statt, weil die mediale Aufmerksamkeit schnell wieder auf eine Personalie gelenkt wurde. Galt es doch den neuen Kommissionspräsidenten zu bestimmen. Das stellte sich als schwieriger heraus als zunächst angenommen. Erstmals schickten die europäischen Parteien bei diesen Wahlen Spitzenkandidaten ins Rennen (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 145) Zwar trug dieser Schritt EU-weit betrachtet nicht zu einer nennenswerten zusätzlichen Wählermobilisierung bei. Immerhin nominierten 26 der 28 Mitgliedstaaten nach zähem Hin und Her den Luxemburger Jean-Claude Juncker und orientierten sich am Wählerwillen. Als Kandidat der stärksten Partei wurde der vormalige luxemburgische Ministerpräsident und Eurogruppen-Chef am 15. Juli 2014 vom EP mit überzeugendem Ergebnis (422 Ja-, 250 Nein-Stimmen bei 47 Enthaltungen) in Straßburg zum Nachfolger von José Manuel Barroso bestimmt. Der Sozialdemokrat Martin Schulz hatte zuvor erreicht, dass er das Amt des Präsidenten des EP noch für weitere zweieinhalb Jahre ausüben kann. Unterstützt wird er durch 14 Vizepräsidenten, darunter die deutschen Abgeordneten Rainer Wieland (EVP) und Alexander Graf Lambsdorff (ALDE).

 

Anlässlich seiner Rede vor dem EP in Straßburg betonte Jean-Claude Juncker, dass er eine „politischere Kommission" wolle. Zudem präsentierte er sich als Partner des EP und stellte seine Reformagenda für Job, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel vor. Darin wünscht er sich „eine Europäische Union, die in großen Fragen Größe und Ehrgeiz zeigt und sich in kleinen Fragen durch Zurückhaltung und Bescheidenheit auszeichnet."

 

„Es entsteht zur Zeit innerhalb der Grenze der EU ein 29. Staat", warnte Juncker im Plenum. „Das ist der Staat, in dem die wohnen, die keine Arbeit haben, ein Staat, in dem jugendliche Arbeitslose wohnen, ein Staat, in dem Ausgeschlossene, Zurückgeworfene und Stehengebliebene leben." Er wolle, „dass dieser 29. Mitgliedstaat wieder ein normaler Mitgliedstaat wird".

 

Juncker sprach sich zudem für einen Neuanfang aus. Vor allem wolle er bei den Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen zurückgewinnen. In seinem 10-Punkte-Plan stehen Wachstum und Beschäftigung an erster Stelle. Juncker beabsichtigt durch eine bessere Nutzung des EU-Haushalts und der Europäischen Investitionsbank (EIB) in den nächsten drei Jahren bis zu 300 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen und privaten Investitionen zu mobilisieren. Bezüglich der nationalen Haushalte betont er, der Stabilitätspakt müsse eingehalten werden, doch gelte es, die in ihm vorgesehene Flexibilität „so gut wie möglich zu nutzen". Daneben soll nach seinen Vorstellungen ein Fokus auf Energie- und Klimapolitik, eine strenge Kontrolle der Banken, den Kampf gegen Steuerbetrug, eine faire Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, ein vernünftiges und ausgewogenes Freihandelsabkommen mit den USA, eine neue Migrationspolitik gepaart mit einer starken Asylpolitik, mehr Gewicht auf internationaler Bühne und – als einen Schritt zu einem demokratischeren Europa – mehr Transparenz im Hinblick auf Lobbyaktivitäten gelegt werden.

 

Eine große Herausforderung für die politische Zukunft der EU wird darin liegen, Europa näher an die Menschen zu bringen, und die grassierende Europamüdigkeit zu überwinden. Dabei können und sollten auch die Kirchen sich weiter aktiv in die Europadebatte einbringen. Etwa wenn es darum geht, das europäische Wertefundament auszuformen und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.

 

Als Dialogpartner sind die Kirchen notwendigerweise Akteure im Prozess der europäischen Integration und müssen sich zu Europa verhalten. Nicht ohne Grund lassen sich mit polemischer EU-Schelte einfach Wählerstimmen gewinnen, wie das Abschneiden europafeindlicher Parteien wie des FN oder populistischer Parteien wie der UKIP bei den Europawahlen gezeigt hat. Angesichts der zu beobachtenden Entwicklung, dass nationale Interessen zunehmend vor europäische gestellt werden, und der erschreckenden Tendenz, dass sich nationalistische, fremdenfeindliche und populistische Parteien in der europäischen Parteienlandschaft zunehmend etablieren, braucht Europa die Fürsprache der Kirchen.

 

Dies umso mehr, als die Motive der Integration nicht an Bedeutung verloren haben. Der Konflikt in der Ukraine und die furchtbaren kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten führen uns vor Augen, dass die Garantie von Frieden, Wohlstand und Sicherheit als europäisches Leitmotiv weiterhin eine starke Kraft entwickelt. Während dies unbestritten sein dürfte, mangelt es am Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der praktischen Ausgestaltung Europas. So hat auch die Aussicht, bei den diesjährigen Europawahlen mit erstmals zwei europäischen Spitzenkandidaten über den künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission mitzubestimmen, viele eben nicht motivieren können, am Urnengang teilzunehmen. Es bedarf also neuer Anstrengungen, um die Menschen wieder näher an Europa heranzuführen und einen Rückfall in nationalstaatliches Denken zu verhindern. Schließlich erreicht Europa die Herzen nur, wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass sie mit ihren Ängsten, Nöten, Zweifeln und Fragen ernst genommen werden. Sie müssen mitreden können und das Gefühl haben, dass es um ihre Anliegen geht. Das kann aber nur gelingen, wenn sich auch institutionell etwas ändert. Als Projekt der Eliten hat die EU aber auf Dauer keine Überlebenschance.

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm kommt in einem lesenswerter Artikel in der FAZ vom 11. August 2014 zu dem Schluss, dass es entscheidend wäre, „eine Europäisierung der Europawahlen und die Gründung echter europäischer Parteien, die Kontakt mit der Gesellschaft aufnehmen, sich mit europäischen Programmen zur Wahl stellen und dann die europapolitischen Auffassungen und Interessen ihrer Wähler in die Brüsseler Entscheidungsprozesse einspeisen", voranzutreiben. „Der demokratienotwendige Delegations- und Verantwortungszusammenhang zwischen Wahl und Parlamentsarbeit ist in Europa (vielmehr) unterbrochen. Die nationalen Parteien, die man wählen kann, bestimmen nicht den Parlamentsbetrieb. Die europäischen Parteien, die den Parlamentsbetrieb bestimmen, kann man nicht wählen." Daneben müsse „die Beendigung der Verselbständigung von Kommission und Europäischem Gerichtshof (EuGH) von den demokratischen Prozessen in der EU und den Mitgliedstaaten einsetzen", um die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen.

 

Ob dies der Neuanfang ist, von dem Jean-Claude Juncker in seinen politischen Leitlinien spricht, ist noch unklar. Doch wenn es dem neuen Kommissionspräsidenten ernst ist mit seiner Reformagenda, dann sollte er Grimms berechtigten Einwurf nicht ungehört verhallen lassen.

 



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