„Welche Wirtschaftsordnung wollen wir? Neue Impulse aus der TTIP-Debatte“

(Ein Gastbeitrag von Dr. Jürgen Born)

TTIP, das geplante Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und den USA, hat einen Prozess in Gang gesetzt, der bis vor kurzem noch nahezu undenkbar schien: In vielen Mitgliedsstaaten wird gleichzeitig, kontrovers und auf breiter Basis über ein komplexes wirtschaftspolitisches Vertragswerk der EU diskutiert. Weder die Schaffung des EU-Binnenmarkts 1993 noch die Einführung des Euro 1999 wurden von einer derart intensiven öffentlichen Debatte begleitet wie jetzt die Verhandlungen über TTIP, obwohl sie im Kern gleichgerichtete Ziele verfolgen.

Im Mittelpunkt der TTIP-Diskussion stehen derzeit vor allem die befürchteten negativen Auswirkungen des Abkommens u. a. auf Umwelt-, Verbraucher- oder Arbeitnehmerschutz. Ebenso heftig diskutiert werden institutionelle Fragen wie die Informationspolitik der EU-Kommission, die formale und faktische Rolle des EU-Parlaments, das Mitwirkungsrecht der nationalen Parlamente sowie die geplante Einrichtung von Schiedsgerichten, die internationalen Investoren Klagemöglichkeiten gegen Staaten jenseits des nationalen Rechtswegs bieten sollen. All diese Themen sind nicht wirklich neu, durch die Debatte um TTIP werden sie jetzt aber erstmals einer breiten Öffentlichkeit konkret zugänglich.

Eine gravierende Folge von TTIP jedoch scheint zwar immer wieder auf, wird aber trotz ihrer politischen Sprengkraft nur selten prominent diskutiert: In Europa droht TTIP den Graben zwischen wettbewerbsfähigem Norden und zurückfallendem Süden zu zementieren. Denn die für die EU als Ganzes in Aussicht gestellten Vorteile des Abkommens wären innerhalb der Union höchst ungleich verteilt. Wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland oder Schweden könnten ihre Position weiter ausbauen, für strukturschwache Staaten wie Griechenland oder Portugal würde die Perspektive auf wirtschaftlichen Anschluss in noch weitere Ferne rücken. Die EU-Kommission und die nationale Regierungen dringen mit ihren Argumenten pro TTIP bei den Bürgerinnen und Bürgern jedenfalls kaum noch durch. Offensichtlich reicht es angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen in Europa nicht mehr aus, eine Fortführung der liberalen EU-Handels- und Wirtschaftspolitik mit der vagen Hoffnung auf höheres Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze zu rechtfertigen. Sollte sich dieser Trend verstärken, rüttelt die Debatte um TTIP an einer der zentralen Säulen der europäischen Integration.

Spätestens seit dem Weißbuch zur Schaffung des Binnenmarktes 1985 folgt die EU im Kern einer klaren ordnungspolitischen Idee: Durch mehr wirtschaftliche Integration werden nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Mitgliedsstaaten selbst einem immer stärkeren Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Langfristig soll dies zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und damit zu mehr Wohlstand für alle führen. Dabei sind die Rollen klar verteilt. Während die EU mit Binnenmarkt und Währungsunion wettbewerbsfreundliche Rahmenbedingungen setzt, müssen die nationalen Regierungen ihre Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik durch strukturelle Reformen kompromisslos auf Wettbewerbsfähigkeit trimmen, da ansonsten Kapital und qualifizierte Arbeit das Land verlassen.

TTIP wäre eine konsequente Fortsetzung dieser Idee und würde zu einer zusätzlichen Erhöhung des Wettbewerbsdrucks in der EU führen. Schließlich könnten europäische Unternehmen die neuen Absatzmöglichkeiten auf den riesigen US-Märkten nur dann wirkungsvoll nutzen, wenn sie global wettbewerbsfähig sind und zuhause optimale Standortbedingungen vorfinden. Die Regierungen der 28 EU-Mitgliedsstaaten würden durch TTIP also noch stärker als bisher zu Strukturreformen gezwungen.

Allerdings sind die bisherigen Erfahrungen mit diesem politisch bewusst geschürten Systemwettbewerb zwischen den EU-Mitgliedsstaaten sehr ernüchternd. Denn der bereits jetzt, ohne TTIP, enorme Wettbewerbsdruck in EU und EWU hat bisher nicht zu einer flächendeckenden Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in der EU geführt, im Gegenteil: Indikatoren wie der alljährlich erhobene Global Competitiveness Index (GCI) belegen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Staaten seit einigen Jahren immer weiter auseinanderdriftet, sich Europa zunehmend in einen wettbewerbsfähigen Norden und einen krisengebeutelten Süden spaltet. TTIP droht diese Spaltung weiter voranzutreiben und dadurch die Anpassung der Lebensverhältnisse in der EU zu gefährden.

Aber genau an diesem Punkt ist Europa zum Erfolg verdammt. Denn ohne eine realistische Wohlstandsperspektive für alle Mitgliedsländer fehlt dem gemeinsamen europäischen Projekt genau jene Triebkraft, die seinen Erfolg in den letzten Jahrzehnten zu einem großen Teil ausgemacht hat. Und dann würden sich selbst die vermeintlichen Vorteile von TTIP als Bumerang erweisen und den europäischen Integrationsprozess endgültig in eine Sackgasse führen.

Vor diesem Hintergrund bietet die intensive Debatte um TTIP die große Chance, nicht nur die einzelnen Aspekte des Abkommens kritisch zu durchleuchten, sondern endlich auch die dahinter liegende Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung der EU. Die permanente Erhöhung des Wettbewerbsdrucks nach altem Muster führt offensichtlich nicht zu einer nachhaltigen Sicherung des Wohlstands in allen EU-Staaten. Nur wenn Europa diese ordnungspolitische Herausforderung wirksam angeht, könnte ein faires und nachhaltiges Freihandelsabkommen mit den USA zu einer bedenkenswerten Option werden.

Bei der Einführung von Binnenmarkt und Euro blieb eine öffentliche Auseinandersetzung über die zugrunde liegende europäische Wirtschaftsordnung aus. Nicht zuletzt bei den zahlreichen Anläufen zu einem wirksamen Krisenmanagement in den letzten Jahren wurde deutlich, welch schwere Hypothek dieses Versäumnis für ein gemeinsames und solidarisches Handeln der EU ist. Die aktuelle Debatte um TTIP zeigt, dass es auch anders gehen kann – eine gute Nachricht für das Projekt Europa.


Dr. Jürgen Born ist Diplom-Volkswirt und wirtschaftspolitischer Referent im Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen.



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