Schatten und Licht: Kommission stellt Fortschrittsbericht der Türkei vor

(Julia Maria Eichler)

Am 8. Oktober 2014 stellte die Europäische Kommission ihren jährlichen Fortschrittsbericht zur Türkei vor. Der Bericht analysiert die Situation in der Türkei anhand von politischen und wirtschaftlichen Beitrittskriterien im Zeitraum vom Oktober 2013 bis September 2014. Systematisch werden die 33 Kapitel der Beitrittsverhandlungen dargestellt.13 Kapitel sind inzwischen eröffnet. Das Kapitel „Wissenschaft und Forschung" ist bereits vorläufig abgeschlossen. Doch solange die Türkei die Schlussakte zum Abkommen von Ankara nicht auf Zypern anwendet, werden acht Verhandlungskapitel nicht eröffnet und kein Kapitel endgültig abgeschlossen.

Der Bericht zeigt, dass die Menschenrechtssituation in der Türkei nach wie vor schwierig ist. Die Annahme des Aktionsplans zur Prävention von Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, der unter anderem den Schutz des Rechts auf Leben sowie den Schutz von Presse- und Meinungsfreiheit umfasst, sei ein wichtiger Schritt gewesen, um den gesetzlichen Rahmen und die Praxis in Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR zu bringen. Zudem sei durch neu eingeführte staatliche Rechtsmittel die Anzahl von Anträgen an den EGMR deutlich gesunken (September 2012 bis September 2013: 5919 Anträge, September 2013 bis September 2014: 1950 Anträge). Allerdings müssten die Urteile des EGMR konsequenter umgesetzt und der institutionelle Rahmen für Menschenrechte gestärkt werden.

Grundsätzlich werde zwar die Glaubensfreiheit in der Türkei respektiert. Trotzdem bedürfe es umfassender Reformen der Gesetzgebung zur Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit. Problematisch sei weiterhin die Angabe der Religionszugehörigkeit im Personalausweis. Ebenso sei problematisch, dass es weiterhin nicht möglich sei, sich vom Religionsunterricht abzumelden, ohne die Religion der Eltern offen legen zu müssen.

Nicht-muslimische Religionsgemeinschaften könnten weiterhin keine Rechtspersönlichkeit erwerben. Sie sähen sich deshalb erheblichen Problemen in Zusammenhang mit Eigentumsrechten, dem Zugang zur Justiz, der Finanzmittelbeschaffung und Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen von ausländischen Geistlichen ausgesetzt. Kritisiert werden auch die Beschränkungen bei der Ausbildung von Geistlichen. Das griechisch-orthodoxe Seminar von Chalki ist seit 1971 geschlossen. Das ad-hoc eingerichtete Komitee, das die Möglichkeiten einer Wiedereröffnung eruieren sollte, sei ohne offizielle Resultate geblieben. Cem-Häuser würden immer noch nicht als alevitische Gotteshäuser anerkannt. Aleviten wie auch die protestantischen Gemeinden hätten über hassmotivierte Straftaten sowohl gegen die Gläubigen selbst als auch gegen Gotteshäuser berichtet.

Noch deutlicher wird die türkische Gesetzgebung und deren Umsetzung im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit kritisiert. Die öffentlichkeitswirksamen Verbote von „Youtube" und „Twitter" wurden zwar durch das Verfassungsgericht wieder aufgehoben. Es blieben aber 50.000 Webseiten in der Türkei nicht zugänglich, davon nur 6.000 auf Grundlage eines Gerichtsbeschlusses. Einschüchternde Statements von Politikern und Verfahren gegen kritische Journalisten in Verbindung mit den monopolistischen Eigentümerstrukturen der Massenmedien würden zu einer Eigenzensur der türkischen Medien führen. Die Türkei gehöre zu den Ländern mit den meisten Journalisten im Gefängnis (Stand Juni 2014: 22 Journalisten).

Im Zusammenhang mit dem Verbot von „Youtube" steht auch die Kritik am türkischen Versammlungsgesetz, welches den Polizeibeamten zu große Ermessensspielräume zugestehe. Weder das Gesetz noch das Vorgehen der Polizei entspreche europäischen Standards. Zwar bestehe das Recht, sich ohne vorherige Genehmigung zu versammeln und zu demonstrieren. Der regelmäßige Einsatz von extensiver Gewalt und die häufigen Festnahmen bei Demonstrationen konterkariere aber dieses Recht ebenso wie die Möglichkeit Aufnahmen von Demonstrationen zu machen, um spätere Verdächtige zu identifizieren und Beweismittel für Strafverfahren zu sammeln.

Die Kommission fordert sowohl die Annahme von Antidiskriminierungsvorschriften als auch die Einrichtung einer Institution, die sich für Gleichstellung und gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz einsetzt. Insgesamt müsse der Respekt vor den Rechten von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Transsexuellen und Intersexuellen gesteigert werden. Frühverheiratung, Zwangsehen und Ehrenmorde seien weiterhin Probleme. Die feste geschlechterspezifische Rollenverteilung in der Türkei führe in Verbindung mit z. B. dem geringen Angebot an Kinderbetreuungseinrichtung zu einer echten Behinderung für den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt.

Jenseits der Menschenrechte sieht die Kommission die Entwicklungen im Bereich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit mit Sorge. Zu nennen ist hier insbesondere die Entlassung kritischer Staatsanwälte und Polizisten. Positiv zu beachten sei, dass die Türkei im Bereich der Unterstützung von Flüchtlingen aus Syrien und Irak erhebliche humanitäre Anstrengungen unternehme. Unabhängig von den erheblichen Belastungen habe die Türkei wichtige Schritte in Hinblick auf Asyl- und Migrationspolitik unternommen. Hierbei seien die Einführung des Ausländer- und internationalen Schutzgesetzes und die Einrichtung einer Generaldirektion für Migrationsmanagement wichtige Reformen gewesen, die durch die zeitnahe Annahme von Durchführungsbestimmungen abgeschlossen werden müssten. Die Türkei gewähre momentan mehr als einer Million syrischer Flüchtlinge Zuflucht. Darüber hinaus gebe es 80.000 weitere Asylbewerber. Obwohl die Kommission gerade im Bereich der Menschenrechte noch erheblichen Handlungsbedarf sieht, möchte sie die Verhandlungskapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und 24 (Justiz, Freiheit und Sicherheit) vorzeitig eröffnen und andere Kapitel zurückstellen.

Die Kommission vertritt die Ansicht, dass es sinnvoller sei, erst die Grundsatzfragen zu klären. Nichts sei besser geeignet als der Beitrittsprozess, um Reformen anzustoßen und Kooperationsprojekte im Interesse der EU voranzubringen. Dieser neue Ansatz ist eingebettet in ein umfassenderes Vorgehen der EU. Angesichts der Bedrohung im Irak und Syrien durch den Islamischen Staat und dem Konflikt mit Russland im Osten scheint die EU den Schulterschluss mit der Türkei zu suchen. Der Besuch der EU-Außenbeauftragten Mogherini am 8. Dezember 2014 gemeinsam mit den Erweiterungskommissaren Hahn und Stylianides dürfte daher auch dazu gedient haben, die ehemals engen Beziehungen zwischen Europa und Türkei wieder zu beleben. Vor allem, dass der Besuch nur einen Monat nach Amtsantritt der neuen Kommission stattfand, ist ein deutlicher Hinweis auf den Bedeutungsgewinn der Türkei.

Gut eine Woche vor dem Besuch aus Brüssel hatte der russische Präsident Putin bei einem Staatsbesuch in der Türkei verkündet, das Erdgaspipeline Projekt „South Stream" einstellen und stattdessen eine Pipeline in die Türkei bauen zu wollen. Dass der Dialog mit der Türkei sich schwierig gestalten dürfte, zeigte der massive Polizeieinsatz gegen regierungskritische Medienvertreter Mitte Dezember 2014. Die betroffenen Medien und Personen stehen dem Prediger Fethullah Gülen nah, der selbst in den USA lebt und ein bekannter Gegner Erdogans ist. Bei landesweiten Razzien wurden 20-30 Personen, darunter Journalisten und Polizeichefs, festgenommen und insgesamt 32 Haftbefehle erlassen. Ihnen wird vorgeworfen, eine Vereinigung gebildet zu haben, die die Macht im Staate an sich reißen wolle. Die EU verurteile die Festnahmen umgehend als Verstoß gegen europäische Werte und mit der Pressefreiheit unvereinbar. Die Antwort aus der Türkei folgte prompt: Brüssel solle sich „um seine eigenen Angelegenheiten kümmern".



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