Fachgespräch „jung. eigen. eigenständig. Argumente für eine eigenständige europäische Jugendpolitik“

(Doris Klingenhagen, Dr. Johan Wagner)

Das enorm hohe Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit in der EU zieht weiterhin große Aufmerksamkeit auf sich. So fand am 8. Oktober 2014 in Mailand ein weiteres Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU statt, das diesem zentralen Problem gewidmet war (siehe nachfolgender Artikel). Zeitgleich hatten das EKD-Büro Brüssel und die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e. V. (aej) zum jugendpolitischen Fachgespräch ins Haus der EKD eingeladen. Im Zentrum der Veranstaltung stand die Frage, ob neben der Konzentration auf die Jugendarbeitslosigkeit ein neuer Ansatz von eigenständiger EU-Jugendpolitik gebraucht wird, der die umfassenden Lebenslagen von jungen Menschen in den Mittelpunkt stellt und sie nicht nur verkürzt als „Human Ressource" für den Arbeitsmarkt betrachtet. Der „Erneuerte Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa (2010-2018)", die EU-Jugendstrategie, böte dafür eine entsprechende Grundlage. Aktuell gibt es Bestrebungen in einigen europäischen Mitgliedsstaaten, die eine neue, moderne und eigenständige Jugendpolitik fordern. So hat etwa in Deutschland 2011 ein Prozess begonnen, der Jugendpolitik als ein eigenständiges Politikfeld mit einer eigenen Sichtweise auf die Lebensphase Jugend neu verankern will. Erfahrungen aus Deutschland bildeten die Diskussionsgrundlage für das Fachgespräch.

OKR’in Katrin Hatzinger, Leiterin des EKD-Büros Brüssel, betonte in ihrer Begrüßung, dass die Jugend eine besondere politische Aufmerksamkeit verdient habe. Die aej und die EKD seien angesichts der veränderten Lebensbedingungen junger Menschen davon überzeugt, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten in der derzeitigen Situation über die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit hinaus eine besondere Verantwortung für das Politikfeld Jugend übernehmen sollten.

Einen wichtigen Impuls zu den veränderten Lebenslagen junger Menschen gab die Jugendforscherin Dr. Birgit Reißig vom Deutschen Jugendinstitut mit ihrem Vortrag über „Entwicklungen, Erfahrungen und Standpunkte aus wissenschaftlicher Sicht für die EU-Jugendpolitik".

Unter anderem am Beispiel des Verbleibs von Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren im Bildungssystem im Jahr 1962 und 2006 zeigte sie gravierende Veränderungen und neue Herausforderungen auf. Im Vergleich zu 1962 sind 2006 5 Prozent gegenüber 40 Prozent der 16- bis 20-Jährigen erwerbstätig. Insgesamt zeichne sich ein späteres Erreichen des Erwachsenenstatus ab, mit verlängerten Bildungs- und Ausbildungsphasen, verzögerten und zum Teil prekären Einstiegen in die Erwerbsarbeit. Schließlich zeige sich vermehrt das Phänomen der „Nesthocker". Diese Entwicklungen begründen eine neue Lebensphase, „das junge Erwachsenenalter". Dieses besondere Jugendalter hat mittlerweile eine politische Dimension erreicht. Und schließlich habe nichts die Lebenswelt der Jugendlichen in den beiden letzten Jahrzehnten so grundlegend und nachhaltig verändert wie die Entwicklungen, die sich im Bereich der elektronischen Medien und sozialen Netzwerke vollzogen hätten. Dies wiederum führe zu einer Öffnung von Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, die junge Menschen besonders spüren. Als Fazit betonte Dr. Birgit Reißig, dass ein breiter Ansatz in der Jugendpolitik nötig sei. Im europäischen Kontext solle Jugendpolitik auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse stattfinden. Kommunale Verantwortung und europäische Mobilität seien in der Übergangsgestaltung von der Schule in Ausbildung von großer Bedeutung. Angesichts der demographischen Herausforderungen gebe es derzeit eine größere gesellschaftliche Offenheit für die Lebenssituation junger Menschen.

Der Moderator der Diskussionsrunde, Marcel Kreykenbohm von der Landesvertretung Bremen, richtete die Grundsatzfrage an die Fachleute: „Wird Jugend zu den großen politischen Fragen der EU gehören?" Stephan Groschwitz, jugendpolitischer Referent der aej, betonte, dass die EU auf jeden Fall eine eigenständige Jugendpolitik benötige. Er hoffe sehr auf eine entsprechende Prioritätensetzung. Leider spreche die Person des designierten Kommissars für Kultur, Bildung, Jugend und Bürgerschaft, Tibor Navracsics, „gerade nicht dafür". Für eine solche Politik auf europäischer Ebene plädierte auch die Europaabgeordnete Terry Reintke (Bündnis 90/Die Grünen) aus dem Ausschuss für Beschäftigung und Soziales. Jugendliche und Kinder müssten in allen Politikbereichen immer mitgedacht werden. Reimer Böge (CDU), Mitglied des Europäischen Parlaments und Mitglied des Haushaltsausschusses (CDU), berichtete von seinen Erfahrungen aus der Jugendarbeit/Jugendpolitik, die immer wieder ein Auf und Ab erlebt habe. Er lenkte den Blick auf die neue Kommission, die deutlich politischer sein werde. Diese Chance müsse man für die Jugend nutzen. Aus haushälterischer Sicht bestehe bei kleinen Programmen wie dem Jugendprogramm immer die Gefahr, dass sie unter die Räder kommen. Dieser Entwicklung habe er bei der Neuaufstellung des Programms „Erasmus+" mit einem eigenen Budget entgegen gewirkt. Hans-Joachim Schild vom Europarat und dort verantwortlich für das Partnerschaftsprogramm zwischen Europäischer Kommission und Europarat im Jugendbereich unterstrich, dass es viele Analogien zwischen der Politik in Deutschland, in der Europäischen Union und auch im Europarat gebe. Der Europarat verstehe sich als Organisation, die Anregungen gebe und Standards im Jugendbereich setzte. Beispielhaft sei hier das System des Co-Managements. Hier entschieden Vertreter des Europarats zusammen mit gewählten jugendlichen Vertretern. Dr. Birgit Reißig knüpfte daran an und sah Übertragungspotential vor allem bei der Methode des Dialogs.

Die europäische Jugendstrategie, betonte Stephan Groschwitz, sei aus Sicht der evangelischen Jugendarbeit eine gute Strategie für eine eigenständige europäische Jugendpolitik. Die Probleme lägen in der Umsetzung: „Wir haben ein Handlungsdefizit. Seit dem starken Fokus auf die Jugendarbeitslosigkeit ist die EU-Jugendstrategie aus dem Blick geraten." Terry Reintke äußerte den Wunsch, unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten für Jugendliche zu eröffnen: „Wir müssen diese Wege schaffen." Sie versprach, sich im Europäischen Parlament vor allem um die Jugendbeschäftigungsinitiative zu kümmern. „Der Jugendbereich muss dafür kämpfen, dass er eigenständig bleibt", war dagegen das Abschlussplädoyer von Hans-Joachim Schild.

Doris Klingenhagen, Referentin für Jugend- und Bildungspolitik im EKD-Büro Brüssel, hielt am Ende des Fachgesprächs fest: „Unsere europäischen Gesellschaften und die EU brauchen die Jugend – ihre Ideen, ihr Engagement, ihre Potenziale. Und junge Menschen brauchen in dieser entscheidenden Lebensphase Unterstützung und Anerkennung. Deshalb brauchen Europas Jugendliche eine Jugendpolitik, die sich dezidiert für sie einsetzt. Ihnen zu ihrer eigenen Stimme in ihren Angelegenheiten verhilft und ihnen Ressourcen und Räume verschafft."



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