Durchbruch oder zumindest neue Dynamik? - Europäische Kommission stellt Migrationsagenda vor

(Katrin Hatzinger)

Am 13. Mai 2015 hat die Europäische Kommission die mit Spannung erwartete Europäische-Migrationsagenda der Öffentlichkeit präsentiert. Der Erste Vize-Präsident, Frans Timmermann, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der für Migration, Inneres und Bürgerschaft zuständige Kommissar, Dimitris Avramopoulos, stellten sie in einer gemeinsamen Pressekonferenz in Brüssel vor.

Dass die drei Politiker gemeinsam vor die Presse traten, verdeutlicht, dass die Juncker-Kommission neue Wege gehen will und es mit ihrem Vorschlag ernst meint, endlich eine umfassende und kohärente Agenda vorzulegen, die verschiedene Politikbereiche zusammenbringt. Die Mitteilung (KOM (2015) 240 final) ist insofern ein Schritt in die richtige Richtung. Die externe und interne Dimension werden zusammengebracht. Die Kommission schlägt dabei sowohl kurzfristige Maßnahmen vor, mit denen sie auf die derzeitige Flüchtlingssituation reagieren will als auch langfristige Maßnahmen. Dabei sieht die Agenda vier Schwerpunktbereiche vor: die Reduzierung der Anreize für irreguläre Migration, verstärktes Grenzmanagement, eine starke gemeinsame Asylpolitik sowie eine neue Politik für legale Migration.

Die Agenda hat bislang, insbesondere durch den Vorschlag einer Quote zur Verteilung von Schutzsuchenden in Europa für Furore gesorgt. Hintergrund ist, dass heute sechs der 28 EU-Staaten zwei Drittel der Flüchtlinge aufnehmen.

Um mit der Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum angemessen umzugehen, wird die Kommission gemäß Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kurzfristig einen Notfall-Mechanismus aktivieren, der die am stärksten von der Flüchtlingssituation betroffenen Mitgliedstaaten entlasten soll. Dabei ist kurzfristig u.a. eine zeitlich befristete Umverteilung („emergency relocation“) von Flüchtlingen auf andere Mitgliedsstaaten vorgesehen. Relocation ist in der derzeitigen Situation eine mögliche Maßnahme, um den Druck in den Versorgungssystemen der Erstaufnahmeländer (Griechenland, Malta, Italien) etwas zu erleichtern.

Ende 2015 wird die Kommission dann einen Gesetzgebungsvorschlag für ein verbindliches und automatisch greifendes Verteilungssystem vorlegen, das im Falle eines Massenzustroms von Flüchtlingen greifen würde. Als Kriterien für die Verteilung der Schutzsuchenden sollen in beiden Fällen das Bruttoinlandsprodukt, die Größe der Bevölkerung, die Arbeitslosenquote und die Zahl bisher aufgenommener Schutzsuchender ausschlaggebend sein.

Die Einführung eines Quotensystems als Teil der Europäischen Migrationsagenda ist ein erster Schritt, um die längst überfällige Debatte über eine faire Verteilung von Flüchtlingen in der EU anzustoßen. Implizit macht die Europäische Kommission damit klar, dass das bisherige Dublin-System nicht funktioniert. Die Quote allein ist aber kein Allheilmittel, sondern es muss v.a. darum gehen, einheitliche menschenwürdige Bedingungen für Schutzsuchende in der EU zu schaffen. Hier ist es begrüßenswert, dass die EU-Kommission unter anderem angekündigt hat, 60 Millionen Euro als Soforthilfe für die Verbesserung der Aufnahme und der Gesundheitsvorsorge in besonders betroffenen Staaten zur Verfügung zu stellen. Wichtig ist aber auch, dass die Belange der Flüchtlinge und Schutzsuchenden nicht aus den Blick geraten. Deshalb sollte im Interesse einer nachhaltigen Lösung bei der Quotendiskussion auch berücksichtig werden, ob die Flüchtlinge z.B. familiäre oder sprachliche Bezüge in einen Staat haben. Solange eine Verteilung, sei sie kurzfristig als Relocation oder dauerhaft anstelle der Dublin-Verordnung, nicht diese Perspektiven mit einbezieht, wird es „refugees in orbit“ (umherwandernde Flüchtlinge) geben, was bereits die Dublin-Verordnung vermeiden sollte – erfolglos wie die gegenwärtige Situation zeigt.

Während die Idee eines Verteilungsschlüssels in Deutschland auf Zustimmung stieß, ließ Kritik aus Großbritannien, Dänemark und Irland, aber auch aus Frankreich, Tschechien, Polen, Ungarn und Lettland nicht lange auf sich warten. Die britische Innenministerin Theresa May hat sich schon vor der Vorstellung des Programms dafür ausgesprochen, Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer künftig zurückzuschicken und „sichere Landeplätze“ in Nordafrika einzurichten.

Trotz des Widerstandes zeigte sich der Erste Vize-Kommissar Franz Timmermanns in der Pressekonferenz zuversichtlich. Um die vorläufigen Maßnahmen nach Art 78 Absatz 3 AEUV zu treffen, ist nämlich lediglich eine qualifizierte Mehrheit im Rat notwendig. Großbritannien und Irland, ebenso wie Dänemark haben zudem Ausnahmeregeln im Bereich der europäischen Asylpolitik ausgehandelt (Opt-out bzw. Opt-in), die von der Kommission bereits einkalkuliert worden sind.

Darüber hinaus unterstreicht die EU-Kommission in der Agenda die Notwendigkeit, konkrete Maßnahmen zur Seenotrettung zu verstärken. Es ist eine Verdreifachung der Mittel für die Fontex-Operationen „Triton“ und „Poseidon“ vorgesehen, was in etwa der Umfang der italienischen Marineoperation „Mare Nostrum“ entspricht und zu begrüßen ist. Ende Mai 2015 soll zudem der neue Einsatzplan für Triton präsentiert werden. Darin sollen sowohl die Kapazitäten als auch der geographische Umfang der Operation ausgeweitet werden, so die Kommission. Das ist eine wichtige Klarstellung, um Tragödien, wie zuletzt vor der libyschen Küste zu vermeiden.

Viel Aufmerksamkeit fand auch der weitere Vorschlag, verstärkt militärische Maßnahmen, zur Bekämpfung illegaler Schleuser einzusetzen. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini wurde von den Staats-und Regierungschefs aufgefordert, eine Operation im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzulegen. Durch die Operation sollen u.a. potentielle Schlepperboote ausfindig gemacht, beschlagnahmt und notfalls zerstört werden, die ansonsten für die Passage genutzt werden könnten. Hierfür wäre ein „robustes Mandat“ des UN-Sicherheitsrats notwendig. Zudem plant die Kommission Ende Mai einen Aktionsplan gegen Menschenschmuggel vorzulegen.

Bei allem Verständnis für Aktionen gegen die kriminelle Förderung illegaler Einreisen stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen. An der Notsituation vieler Flüchtlinge wird sie nichts ändern, sondern - im Gegenteil – durch die Zerstörung der Boote wird die Überfahrt nur noch gefährlicher und damit teurer. Die aus Sicht vieler zivilgesellschaftlicher Kräfte wirksamste Maßnahme gegen Menschenschmuggler wäre die Eröffnung sicherer und legaler Zugänge nach Europa (wie beispielsweise humanitäre Visa, erleichtere Familienzusammenführung oder ein effizientes Neuansiedlungsprogramm für Flüchtlinge).

Diese Maßnahmen werden in unterschiedlicher Intensität auch in der Agenda benannt, was zu begrüßen ist. Erfreulich ist insbesondere, dass die EU-Kommission Ende Mai 2015 ein Vorschlag für ein freiwilliges europäisches Pilot-Resettlement-Programm vorlegen wird. 2015 und 2016 sollen 20.000 Flüchtlinge in den Mitgliedstaaten neuangesiedelt werden. Die Verteilung soll nach den o.g. Kriterien erfolgen. Falls nötig, könnte 2016 ein Gesetzgebungsvorschlag für ein bindendes und verpflichtendes Programm folgen, so die Kommission. Auch dieser Vorschlag ist zu begrüßen, plädieren die Kirchen doch schon seit Langem für ein solches Programm. Allerdings ist weiterhin unklar, ob eine jährliche Quote von 20.000 Flüchtlingen tatsächlich dauerhaft geplant ist. Hier bleibt der konkrete Vorschlag, der für Ende Mai 2015 angekündigt ist, abzuwarten. Neben dem UNHCR hat u.a. auch die Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME) eine jährliche Quote von 20.000 Personen gefordert, die spätestens ab dem Jahr 2020 gelten sollte.

Ferner soll stärker mit Herkunfts- und Transitländern kooperiert werden. Dabei sollen die EU-Delegationen eine aktivere Rolle im Migrationsbereich übernehmen. Insbesondere indem sie in den wichtigsten Drittstaaten mit einem europäischen Migrationsbeauftragten ausgestattet werden, um eng mit den Verbindungsbeamten für Einwanderungsfragen, Behörden und der Zivilgesellschaft vor Ort zusammenzuarbeiten.

Ein Pilotprojekt soll bis Ende des Jahres in Niger gestartet werden. Dort sollen im Rahmen eines „multi-purpose centers“ in Verbindung mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UNHCR sowie den Behörden vor Ort Beratung, Schutz und Resettlementmöglichkeiten angeboten werden. Solange solche Zentren der Beratung und Orientierung von Menschen dienen, ist ihre Einrichtung sicherlich sinnvoll. Die rechtstaatlichen Standards von europäischen Asylverfahren können dadurch aber nicht ersetzt werden. Darüber hinaus muss eine menschenrechtskonforme Behandlung der Schutzsuchenden gewährleistet bleiben. Im Hinblick auf legale Migrationswege ist die Agenda leider nicht sehr innovativ und konzentriet sich weitestgehend auf die Überarbeitung der Blue-Card Richtlinie und Maßnahmen zur Erleichterung der Arbeitsmigration.

Die Mitteilung der Kommission erkennt schliesslich auch ausdrücklich an, dass das Dublin-System in der jetzigen Form nicht funktioniert. Das ist ein wichtiger Schritt, um Verbesserungen zu erreichen. Eine Evaluierung des Dublin-Systems durch die EU-Kommission ist für 2016 vorgesehen. Dann sollten auch die Erfahrungen des befristeten Notfall-Relocation- und Resettlement-Programms eingeholt werden, um zu beurteilen, ob rechtliche Änderungen an der Verordnung nötig sind, um die ursprüngliche Funktion der Verantwortungsteilung innerhalb der EU zu gewährleisten.

Die Migrationsagenda ist angesichts der angespannten Wirtschaftslage und des sensiblen Themas ein ambitionierter Vorstoß der EU-Kommission. Die Agenda enthält durchaus gute Ansätze, um die Lage der Flüchtlinge zu verbessern und dabei zwischen kurz- und langfristigen Maßnahmen zu unterscheiden und kohärent zu agieren. Dabei entwirft sie auch interessante Perspektiven für die Zukunft, wie einen gemeinsamen Asylrechtskodex für die EU, die gegenseitige Anerkennung positiver Asylentscheidungen und ein einheitliches Asylverfahren, das unionsweit die Gleichbehandlung der Asylbewerber gewährleistet. Angedacht sind auch ein europäisches System von Grenzschutzbeamten und ein gemeinsamer EU-Pool von qualifizierten Migranten.

Nun bleiben die weiteren konkreten Vorschläge abzuwarten und inwieweit die Kommission dem Gegenwind aus einigen Mitgliedstaaten widersteht.

Die Agenda finden Sie in englischer Sprache unter:
http://ekd.be/EU-Agenda_on_migration



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