Vom Kruzifix zum Kopftuch: BVerfG erklärt islamisches Kopftuch an öffentlichen Schulen für zulässig

(Johanna Tietze)

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem am 13. März 2015 veröffentlichten Beschluss (Beschluss vom 27.1.2015, Az.: 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10) das Tragen des islamischen Kopftuches an öffentlichen Schulen für zulässig erklärt. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lagen die Verfassungsbeschwerden einer Sozialpädagogin und einer angestellten Lehrerin zugrunde. Aufgrund des Tragens einer kopftuchähnlichen Kopfbedeckung war die Sozialpädagogin abgemahnt worden, während der kopftuchtragenden Lehrerin gekündigt worden war. Das Bundesverfassungsgericht betonte, dass auch Lehrkräfte in öffentlichen, bekenntnisoffenen Schulen von ihrem Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit ( Artikel 4 Absatz 1, 2 GG) Gebrauch machen können. Dieses umfasse auch die Freiheit, ein religiöses Bekleidungsgebot – wie das islamische Kopftuch - zu befolgen, wenn es als verpflichtend verstanden werde. Das Bundesverfassungsgericht machte deutlich, dass, auch wenn innerhalb des Islams umstritten sei, ob das Tragen eines Kopftuchs Pflicht für Musliminnen sei, die von den Beschwerdeführerinnen vertretene Auslegung von muslimischen Geistlichen vertreten werde und sich auf Koranverse zurückführen lasse.
 
Die in Nordrhein-Westfahlen getroffene landesweite Untersagung des Kopftuchtragens aufgrund der davon ausgehenden abstrakten Gefahr für die staatliche Neutralität bei der Wahrnehmung des staatlichen Bildungsauftrages sowie für den Schulfrieden ist laut Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes unverhältnismäßig. Gerade vor dem Hintergrund des von den Beschwerdeführerinnen als verpflichtend wahrgenommenen und nachvollziehbar dargelegten religiösen Bekleidungsgebotes schaffe die angegriffene Regelung des § 57 Absatz 4 SchulG NRW keinen angemessenen Ausgleich der betroffenen Grundrechtspositionen. Eine entsprechende gesetzliche Regelung müsse der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit von Schülern und Eltern ( Artikel 4 Absatz 1, 2 GG), dem Elterngrundrecht ( Artikel 6 Absatz 2 S. 1 GG), dem staatlichen Erziehungsauftrag ( Artikel 7 Absatz 1 GG) sowie der positiven Glaubens-und Bekenntnisfreiheit der Lehrkräfte Rechnung tragen.

Die nordrhein-westfälische Regelung sei daher unter Abwägung der betroffenen gegenläufigen Grundrechtspositionen so einzuschränken, dass eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die Wahrnehmung des staatlichen Erziehungsauftrages vorliegen müsse. Dies bedeute, dass ein Verbot nur in Betracht komme, wenn die konkrete Situation in einzelnen Schulen dies erforderlich mache. Das Bundesverfassungsgericht belässt dem Landesgesetzgeber allerdings die Freiheit, ein allgemeines Verbot auszusprechen, wenn in bestimmten Schulen oder Schulbezirken in einer Vielzahl von Fällen so substanzielle Konflikte auftreten, dass eine konkrete Gefährdung bzw. Störung des Schulfriedens oder der Wahrnehmung des staatlichen Erziehungsauftrages vorliegt. Eine für solche Fälle verabschiedete allgemeine Regelung muss verhältnismäßig sein, d.h. sie könnte etwa eine zeitliche oder örtliche Begrenzung aufweisen.

Das Bundesverfassungsgericht differenzierte des Weiteren zwischen dem islamischen Kopftuch, welches für die Schüler erkennbar aufgrund der persönlichen religiösen Überzeugung der Lehrerin in Ausübung ihrer positiven Glaubens-und Bekenntnisfreiheit getragen würde, und einem auf Weisung der Schulbehörde im Klassenzimmer aufgestellten Kreuz. Die Schüler seien in beiden Situationen den Zeichen des jeweiligen Glaubens während des Unterrichtes ausgesetzt. Der Staat mache sich jedoch den muslimischen Glauben der kopftuchtragenden Lehrerin dadurch nicht zu Eigen. Vielmehr sei eine kopftuchtragende Lehrerin – ebenso wie anderen Religionen oder Weltanschauungen angehörige Lehrkräfte – Ausdruck der religiös-pluralistischen Gesellschaft. Zudem erklärte das Bundesverfassungsgericht eine „Privilegierungsnorm“ für die Darstellung von christlichen und jüdischen Bildungs- und Kulturwerten und Traditionen für nichtig (§ 57 Absatz 4 S. 3 SchulG NRW). Die Norm verstoße gegen die Gleichheitsgrundsätze des Artikel 3 Absatz 3 S. 1 GG und Artikel 33 Absatz 3 GG, weil sie aus Gründen des Glaubens und der religiösen Anschauungen benachteilige. Grundsätzlich seien alle religiösen Symbole – auch christliche - vom allgemeinen Verbot der religiösen Bekleidung im nordrhein-westfälischen Schulgesetz in § 57 Absatz 4 S. 1 SchulG NRW erfasst. Das Bundesverfassungsgericht interpretierte § 57 Absatz 4 S. 3 SchulG NRW daher – anders als das Bundesarbeitsgericht - als umfassende Ausnahmevorschrift für christliche und jüdische Traditionen, die dadurch andere Religionen benachteilige. Diese Ungleichbehandlung der Religionen lässt sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgesetzes auch nicht durch die nordrhein-westfälischen Landesverfassung rechtfertigen. Die in § 57 Absatz 4 S. 3 SchulG NRW zitierten Normen der Landesverfassung NRW thematisierten primär die Unterrichtsgestaltung und die hierfür gesetzten Rahmenbedingungen, sodass eine unterschiedliche Statuierung der Dienstpflichten der Pädagogen durch sie nicht zu rechtfertigen sei. Sofern die Landesverfassung NRW die christlichen Bezüge des Schulwesens betone, seien hierunter die säkularisierten Werte des Christentums zu verstehen. Das in Artikel 7 Absatz 1 der Landesverfassung NRW genannte Erziehungsziel der „Ehrfurcht vor Gott“ erfasse neben dem christlichen Gottesverständnis auch persönliche, islamische, polytheistische oder unpersönliche Gottesvorstellungen.

Der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Prof. Dr. Hans Michael Heinig hält das Ende der Ungleichbehandlung von Religionen nach § 57 Absatz 4 S. 3 SchulG NRW für richtig. Es sei zu begrüßen, „dass das Bundesverfassungsgericht einem (…) Verfassungsverständnis eine Absage erteilt, bei dem eine zuvor fremde Religion wie der Islam mit seinen Symbolen weniger wohlwollend behandelt wird als das Christentum.“ Heinig zeigte sich erfreut, dass muslimische Lehrerinnen nun im Dienst mit einem äußeren Zeichen zu ihrem Glauben stehen können. Dies sei „eine begrüßenswerte Absage an den Laizismus.“ Andere Punkte des Beschlusses sieht er kritischer: Es sei widersprüchlich, „wenn das Kreuz auf Wunsch von Schülern und Eltern zu weichen hat, aber das Kopftuch nicht.“ Im sog. „Kruzifix“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts war der negativen Religionsfreiheit der Schüler noch deutlich mehr Gewicht zugekommen als im gegenwärtigen Beschluss. Laut Prof. Dr. Heinig ist zudem fraglich, ob das Kriterium der konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder den staatlichen Erziehungsauftrag zu mehr Rechtsfrieden führe, besonders wenn das Kopftuch an einzelnen Schulbezirken verboten werde und an anderen nicht. Er merkt an: „Das wird unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung schwierig zu vermitteln sein.“

Im erkennenden ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts war der Beschluss ebenfalls nicht unumstritten. So kritisierten die Bundesverfassungsrichter Wilhelm Schluckebier und Monika Hermanns in ihrem Sondervotum, dass der aktuelle Beschluss die Entscheidungsfreiheit des Landesgesetzgebers für das Schulwesen begrenze. Die beiden Richter führten aus, nach dem Kopftuch-Urteil des 2. Senates des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 2003 stünde es im Ermessen des Landesgesetzgebers, religiöse Bezüge in der Schule zuzulassen oder (im Rahmen des Artikel 7 Absatz 3 GG) gerade auszuschließen. Der letzteren Möglichkeit habe das Bundesverfassungsgericht in seinem neuen Beschluss nun einen Riegel vorgeschoben. Zudem halten die beiden Richter die Argumentation des 1. Senates, kopftuchtragende Lehrerinnen übten keine Vorbildfunktion aus, für realitätsfern. Sie verweisen dazu auf das zwischen Lehrern und Schülern bestehende Abhängigkeitsverhältnis und die Vorbildfunktion von Pädagogen. Es gehöre gerade zu den Aufgaben von Schule und Lehrkräften, die Schüler umfassend – auch hinsichtlich adäquaten Sozialverhaltens – zu fördern: Die Schüler sollen sich in ihrer Persönlichkeit entwickeln können. Des Weiteren verweisen die beiden Richter auf die Sachverständigenberichte im Zuge verschiedener Gesetzgebungsverfahren nach dem ersten Kopftuch-Urteil. Dort sei einhellig zu Tage getreten, dass eine individuelle Entscheidung durch die entsprechenden Schulen diese überfordere und geeignet sei, das schulinterne Konfliktpotenzial noch zu steigern. So gebe es gerade in Grund-und Hauptschulen unterschiedliche Vorstellungen bei Schülern, Eltern und Lehrkräften, wie der islamische Glaube zu praktizieren sei. Eine landesweite Regelung entlaste daher die Schulen vor Ort von der Verantwortung, einen schulinternen Kompromiss finden zu müssen.

Zudem ist zweifelhaft, ob das Bundesverfassungsgericht die Schule als Ort der gelebten Religiosität wirklich gestärkt hat. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die individuelle positive Religionsfreiheit, d.h. die Freiheit, den eigenen Glauben nach außen zu tragen und auszuüben, unzweifelhaft gestärkt. Jedoch ist fraglich, ob dies nicht zu Lasten der kollektiven Religionsfreiheit erfolgt ist, somit der Freiheit von Religionsgemeinschaften, in einem öffentlichen Raum wie der Schule wirken zu können. Das Bundesverfassungsgericht betonte zwar im Beschluss, dass auch christliche Bezüge in der Gestaltung der öffentlichen Schule möglich seien. Es erscheint jedoch möglich, dass angesichts des Verbotes der Privilegierung der Darstellung christlicher und jüdischer Werte, die Gefahr einer schleichenden Laisierung des schulischen Bereichs. Dies würde letztlich der Intention des Bundesverfassungsgerichts zuwider laufen, in der Schule die religiös-pluralistische Gesellschaft abzubilden.

Der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, kündigte eine gründliche Prüfung des Beschlusses durch die EKD an, begrüßte jedoch die Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht, dass Religion „keine Privatsache sei, sondern Teil der Öffentlichkeit“. Er gab jedoch auch zu Bedenken, dass überlegt werden müsse, ob das Kopftuch zum Selbstbestimmungsrecht muslimischer Frauen gehöre, oder für ihre Unterdrückung stehe.

Einige Bundesländer müssen ihre Gesetzgebung nun an den Beschluss aus Karlsruhe anpassen. In den Landesgesetzen finden sich teilweise strikte Untersagungen von religiösen Bekleidungen, die jetzt nicht mehr den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes entsprechen. Privilegierungsnormen für christliche und jüdische Symbole existieren auch in anderen Bundesländern. Hierfür müssen die jeweiligen Landesgesetzgeber nun verfassungskonforme Lösungen finden.

 



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