Arbeitnehmerfreizügigkeit: Zwischen Sozialtourismus und Diskriminierungsverbot

(Johanna Tietze und Florian A. Zeitner)

Am 26. März 2015 hat der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Melchior Wathelet in der Rechtssache Jobcenter Berlin Neukölln gegen Alimanovic (C-67/14) seine Schlussanträge gestellt. Darin vertritt er die Ansicht, dass eine nationale Regelung gegen das Unionsrecht verstößt, wenn sie arbeitsuchende Unionsbürger automatisch vom Bezug von besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen ausschließt. Der Ausschluss ist allerdings nur unionsrechtswidrig, sofern er Unionsbürger betrifft, die im Aufnahmestaat, d. h. Deutschland, schon in den Arbeitsmarkt eingetreten waren. Mit besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen werden öffentliche Geldzahlungen aus Steuergeldern bezeichnet, deren Auszahlung und Höhe sich nicht nach vorherigen Zahlungen des Leistungsbeziehers richtet. Hierunter fallen in Deutschland die Leistungen zur Grundsicherung (sog. „Hartz IV“).

Der EuGH muss nun entscheiden, ob der in § 7  Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verankerte Ausschluss von EU-Ausländern und ihren Familienangehörigen von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, mit Unionsrecht vereinbar ist.

Geklagt hatten eine Mutter und ihre drei Kinder, die alle drei die schwedische Staatsangehörigkeit besitzen. Frau Alimanovic und ihre älteste Tochter arbeiteten über einen Zeitraum von weniger als einem Jahr in jeweils kürzeren Beschäftigungen. Im Übrigen bezogen sämtliche Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (sog. „Hartz IV“). Diese wurden ihnen für ein Jahr nach dem Ende der letzten Beschäftigung gewährt. Danach wurden sie wiederum als arbeitssuchend angesehen und ihnen deshalb nach § 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II die Leistungen zur Existenzsicherung gestrichen.

In der Rechtssache „Dano“ (EKD-Europa-Informationen Nr. 147) hatte der EuGH bereits entschieden, dass das Gleichbehandlungsgebot aus Artikel 4 der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Nr. 883/2004) auch für „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ – also auch für Grundsicherungsleistungen – gelte. Offen sind daher weiterhin die Fragen, ob der in § 7 Absatz1 S. 2 Nr. 2 SGB II normierte Ausschluss gegen das Gleichbehandlungsgebot in Artikel 24  Absatz 1 der Unionsbürgerrichtlinie (Nr. 2004/38) verstoße oder gegen das in Artikel 45 AEUV verankerte Recht auf Freizügigkeit.

Generalanwalt Wathelet führte hierzu aus, dass die deutsche Leistungen zur Grundsicherung eine Sozialhilfeleistung darstellten, da sie hauptsächlich dem Ziel dienten, den Leistungsbeziehern ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Hierbei orientierte sich der Generalanwalt an der vom EuGH vorgenommenen Einordnung der Grundsicherung im „Dano“-Fall. Soweit die nationalen Vorschriften im SGB II auch Hilfen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt enthalten, verändere dies die Einordnung der Grundsicherung als Sozialhilfeleistung nicht, weil das Hauptziel der Grundsicherungsleistungen die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens bleibe. Damit müsse die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses in § 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II an Artikel 24 der Unionsbürgerrichtlinie gemessen werden, da Artikel 45 AEUV nur Maßnahmen erfasse, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern.

Artikel 24 Absatz 1 der Unionsbürgerrichtlinie regelt, dass jedem Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, die gleiche Behandlung wie den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats zu steht. Artikel 24 Absatz 2 der Unionsbürgerrichtlinie sieht hiervon eine Ausnahme für den Anspruch auf Sozialhilfe während der Dauer der Arbeitssuche vor. Eine entsprechende nationale Regelung wie § 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist dem Generalanwalt zufolge daher grundsätzlich mit dem maßgeblichen EU-Recht vereinbar.

Artikel 24 Absatz 2 müsse als Ausnahme vom in Artikel 24 Absatz 1 konkretisierten Diskriminierungsverbot des Artikel 18 AEUV – welcher jegliche Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet - eng ausgelegt werden. Auf Artikel 24 Absatz 2 beruhende Beschränkungen der Sozialleistungsgewährung müssten zudem rechtmäßig seien. Deshalb verstoße die konkrete Ausgestaltung der nationalen Vorschriften in Form des automatischen Ausschluss von Sozialleistungen bei Verlust des Arbeitnehmerstatus gegen das mit der Unionsbürgerrichtlinie geschaffene System. Es bedürfe einer individuellen Prüfung anstatt eines pauschalen Ausschlusses. Im Rahmen der Abwägungsentscheidung seien Aspekte wie die Höhe und Regelmäßigkeit der Einkünfte der Antragssteller, die voraussichtliche Bezugsdauer der Leistungen, familiäre Aspekte (Schulbesuch der Kinder), der Umfang und Erfolg der Arbeitssuche sowie frühere Beschäftigungen von Bedeutung. Es müsse für die Klägerinnen die Möglichkeit eröffnet werden, den tatsächlichen Nachweis ihrer Integration in dem Aufnahmemitgliedstaat zu führen.

Die tatsächliche Verbindung des Unionsbürgers mit dem Aufnahmestaat müsse den automatischen Ausschluss von Sozialleistungen verhindern. Hierin zeigt sich das Bestreben des Generalanwalts, die zuständigen Behörden in die Lage zu versetzen, „Einwanderer in die Sozialsysteme“ von gut integrierten, bedürftigen Unionsbürgern unterscheiden zu können, damit eine gerechte Einzelfallentscheidung getroffen werden kann.

Das im Alimanovic-Verfahren zu Tage getretene Spannungsverhältnis aus Freizügigkeit und „Sozialtourismus“ ist dabei nur ein Puzzlestein der gesamteuropäischen Debatte, die seit der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für rumänische und bulgarischen Staatsbürger Anfang 2014 wieder an Schwung gewonnen hat. Besonders konservative Parteien betonten, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit kein unbeschränktes Recht sei. Das „Dano“-Urteil des EuGH wurde in Deutschland, Großbritannien und Frankreich allgemein begrüßt.

Zeitgleich sprach sich die schweizerische Bevölkerung in einem Referendum für eine eigenständige Zuwanderungspolitik aus. In der Schweiz, aber auch in EU-Mitgliedsstaaten, wie etwa Großbritannien wurden Forderungen nach Zuwanderungskontingenten für EU-Bürger laut. Angela Merkel erklärte im Herbst 2014 dagegen, sie wolle am Grundprinzip der Freizügigkeit nichts ändern. Das Europäische Parlament warnte schon Anfang 2014 davor, EU-Ausländer unter den Verdacht zu stellen, sie nähmen ihr Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit nur wahr, um im Aufnahmestaat Sozialleistungen zu beziehen.

Laut der Bundesregierung gibt es für Deutschland keine empirischen Belege für eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ durch rumänische oder bulgarische Einwanderer. Zahlen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2014 legen sogar nahe, dass in Deutschland gegenwärtig durch Ausländer tendenziell mehr in die Sozialkassen eingezahlt wird, als von ihnen entnommen wird.

Beim EuGH ist unterdessen schon das nächste Vorabentscheidungsverfahren aus Deutschland anhängig. Der Fall „Garcia-Nieto“ (C-299/14) betrifft den pauschalen Ausschluss von Sozialleistungen für EU-Ausländer während der ersten drei Monate ihres Aufenthaltes. Es bleibt also spannend.

Die Schlussanträge des Generalanwaltes finden Sie unter:
http://ekd.be/Schlussantraege-Generalanwalt



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