Neuregelungen in der Dublin-Verordnung: Zum Wohle des Kindes!?

(Julia Maria Eichler)

Am 06. Mai 2015 hat der Ausschuss für Bürgerliche Freiheit, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments (LIBE-Ausschuss) sich dafür ausgesprochen, dass Asylanträge von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in dem Mitgliedsland bearbeitet werden, in dem sich der Minderjährige aufhält. Es sei denn, dieses sei im Einzelfall nicht im besten Interesse des Kindeswohls.

Der LIBE-Ausschuss folgte damit in den wesentlichen Teilen dem Vorschlag der Kommission zur Neuregelung der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. In einer Stellungnahme vom Januar 2015 hatten bereits mehrere christliche Organisationen, darunter der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und CCME (Churches‘ Commission for Migrants in Europe) diesen begrüßt. Auch das Brüsseler Büro der EKD war an der Anfertigung der Stellungnahme beteiligt.

Als im Juni 2013 die neue Dublin III-Verordnung (EU 604/2013) verabschiedet wurde, hatte man sich darauf geeinigt, die Frage der unbegleiteten Minderjährigen offen zu lassen. Man wollte zunächst ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Sache MA, BT, DA gegen Secretary of State for the Home Department (648/2011) abwarten.

Der EuGH musste darüber entscheiden, welcher Mitgliedsstaat für einen unbegleiteten Minderjährigen zuständig ist, wenn dieser keine Familienangehörigen hat, die sich legal in einem anderen EU-Land aufhalten und der Minderjährige bereits einen Asylantrag in einem anderen Land gestellt hatte. Die Dublin III-Verordnung sah bisher in dieser Konstellation vor, dass derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, indem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat. Unklar war damit, welcher Mitgliedsstaat zuständig ist, wenn Asylanträge in mehreren Mitgliedstaaten vorlagen.

Der EuGH entschied noch im Juni 2013, dass für einen unbegleiteten Minderjährigen, der keine sich rechtmäßig in der EU aufhaltenden Angehörigen hat, derjenige Mitgliedsstaat zuständig ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat. Dabei betonte der Gerichtshof, dass es besonders wichtig sei, das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates nicht länger als unbedingt notwendig auszudehnen, da ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling eine besonders gefährdete Person sei. Der Berichterstatter schlussfolgerte, „dass unbegleitete Minderjährige grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedsstaat zu überstellen sind“. Vielmehr sei dem Minderjährigen ein möglichst rascher Zugang zum Asylverfahren zu gewähren. Das Wohl des Kindes müsse immer eine vorrangige Erwägung sein.

Die Kommission legte im Juni 2014 einen entsprechenden Vorschlag zur Änderung der Dublin III-Verordnung vor. Über den vom EuGH entschiedenen Fall hinaus, regelt der Kommissionsvorschlag auch die Situation, dass ein unbegleiteter Minderjährige, der keine sich rechtmäßig innerhalb der EU aufhaltende Familienangehörige hat, sich in einem Mitgliedsstaat befindet, in dem er keinen Asylantrag gestellt hat. Dem Minderjährigen sollte dann die Möglichkeit gegeben werden, einen Asylantrag in dem Aufenthaltsstaat zu stellen Dieser würde mit Antragsstellung zuständig werden. Sieht der Minderjährige von der Möglichkeit ab, wäre der Mitgliedstaat der letzten Asylantragsstellung zuständig.

Der Justiz- und Innenministerrat steht dem Vorschlag der Kommission in Teilen kritisch gegenüber. Die Angst vor dem sog. „Asylshopping“, also der erneuten Asylantragsstellung in einem anderen Mitgliedsland, nachdem bereits der Asylantrag abgewiesen wurde, ist unter den Ministern weit verbreitet. Die niederländische Regierung hatte schon in dem EuGH-Verfahren vorgetragen, dass mit dieser Regelung der Minderjährige, über dessen Asylantrag in der Sache negativ beschieden worden sei, anschließend einen anderen Mitgliedsstaat zur Prüfung eines neuen Asylantrags zwingen könne. Diesen Einwand wies der EuGH mit dem Verweis auf die Asylverfahrensrichtlinie ab. Artikel 33 Absatz 2 d der Asylverfahrensrichtlinie sieht vor, dass ein Asylantrag als unzulässig betrachtet werden kann, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, „bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse (…) zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“.

Trotzdem nimmt der Ministerrat in seinen derzeitigen Verhandlungen erneut diese Position ein und diskutiert u.a., ob eine Rücküberstellung nicht dem Wohle des Minderjährigen entsprechen könnte, im Falle, dass bereits eine erstinstanzliche Sachentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sei. Schließlich könne durch ein solches Vorgehen frühere Klarheit über den internationalen Schutzstatus des Minderjährigen erreicht werden. Damit würde der Mitgliedsstaat, der eine erstinstanzliche Entscheidung getroffen hat, zuständig bleiben. Der Grundsatz des EuGH, dass ein unbegleiteter Minderjähriger grundsätzlich nicht überstellt werden solle, würde ausgehebelt.

Die christlichen Organisationen befürchten, dass ein solches Vorgehen zu einer Verlängerung des Verfahrens führe, schließlich müsste ein Mitgliedsstaat erst überprüfen, ob ein anderer Mitgliedsstaat bereits eine Sachentscheidung getroffen hat. Das Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit des Mitgliedstaates würde damit wieder verlängert. Dem Wohl des Kindes dürfte dies nicht entsprechen.

Darüber hinaus fordern die christlichen Organisationen, dass eine Liste mit Kriterien zur Bestimmung des Kindeswohls festgelegt werde, um Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermeiden. Es bedürfe außerdem auch für die Situation, dass keine Überstellung des Minderjährigen vorgenommen werde, eines Rechtsmittels gegen diese Entscheidung. Denn es sind Fälle denkbar, in denen der Minderjährige ausdrücklich eine Überstellung wünscht. Darüber hinaus sollte die Kommission Richtlinien aufstellen, welche Informationen dem Minderjährigen zur Entscheidung, ob er in seinem Aufenthaltsstaat einen Asylantrag stellt, zur Verfügung gestellt werden.

Mit fünfzig zu drei Stimmen erhielt die Berichterstatterin im LIBE-Ausschuss Cecilia Wikström (ALDE) außerdem den Auftrag, die Verhandlungen mit dem Ministerrat aufzunehmen.

Die Stellungnahme der christlichen Organisationen finden Sie in englischer Sprache unter:
http://ekd.be/Stellungnahme-ChristlicherOrganisationen



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