Wege aus der Sinn-Krise: Ideen für ein Europa von morgen

(Katrin Hatzinger)

Aktuell steht die Bewältigung der Schulden- und Bankenkrise im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, doch so wichtig und notwendig eine gemeinsame Bankenaufsicht, Schuldenbremsen und eine strenge Haushaltsdiziplin auch sind, Europa ist mehr als der gemeinsame Markt und die gemeinsame Währung. Deshalb ist es richtig, dass Politiker wie Finanzminister Schäuble oder der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, über den Moment hinausdenken und eine Debatte zur Schaffung einer echten politischen Union in Europa anregen. Dabei wird immer deutlicher, dass die "zivilisierende Kraft Europas" (Habermas) angesichts der wirtschaftlichen Probleme, der schmerzhaften Einschnitte und der gefühlten Ungerechtigkeit gerade einer Zerreißprobe ausgesetzt wird. Längst zurecht in die Mottenkiste der Geschichte verbannte Stereotype und Vorurteile erleben eine gruselige Renaissance, die Zurückbesinnung auf den Nationalstaat ist wieder en vogue, gegenseitige Schuldzuweisungen und Bevormundung sind an der Tagesordnung. So kann es nicht weitergehen.

Es ist eine glückliche Fügung, dass es immer noch genügend Besonnenheit in der politischen Klasse Europas gibt, sich nicht vor den einfachen Botschaften verführen zu lassen und zu populistischer Rhetorik zu greifen, sondern bereit zu sein, den unbequemeren Weg durch Parlamente und öffentliche Debatten zu einer mühsamen Kompromissfindung zu beschreiten. Diese Besonnenheit war gerade in den letzten Monaten gefragt, als die parlamentarische Demokratie immer wieder bedenklicher Marginalisierung ausgesetzt war, die dringend beendet werden muss. Denn die Krise wird uns noch länger begleiten.
 
Es wird aber auch zunehmend deutlich, welche Fehler in der Vergangenheit gemacht worden sind, die nun zum Tragen kommen. Dabei geht es nicht nur um die Erkenntnis, dass eine gemeinsame Währungspolitik ohne eine abgestimmte Wirtschafts- und Finanzpolitik auf Dauer nicht funktionieren kann und dass Stabilitätskriterien eingehalten werden müssen. Europa befindet sich auch in einer Sinnkrise. Zu lange hat man sich auf Bürokratie und Gesetzgebung verlassen, ohne die Zeit und Energie zu investieren, das geistige Vakuum zu füllen, eine gemeinsame Identität zu schmieden und die Menschen mitzunehmen. Solange wirtschafts- und finanzpolitisch alles rund lief und die EU-Fördergelder flossen, hat dieses Manko allerdings auch nicht wirklich jemanden gestört. Europa, das waren "die da in Brüssel": die überbezahlten EU-Beamten, die vielreisenden EU-Parlamentarier, die in ihrer Blase vor sich hin regulierten und debattierten - oft ungeliebt und unverstanden, aber auch nicht weiter störend. Die Annehmlichkeiten einer gemeinsamen Währung, grenzenlosen Reisens, Arbeitens und Studierens wurden von jedermann gerne in Anspruch genommen, aber auch nicht weiter hinterfragt. Viele gesetzgeberische Impulse aus Brüssel blieben von einer breiteren Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt. Vielen Bürgerinnen und Bürgern ist bis heute unbekannt, wie viele Bereiche der nationalen Gesetzgebung auf Vorgaben aus Brüssel zurückgehen und welche Bedeutung etwa der Europäische Gerichtshof in Luxemburg bei der Vertiefung der Integration spielt. Das Bewusstsein für die Bedeutung der EU-Institutionen hat sich durch die Krise gewandelt, dennoch bleibt der Blick durch die Krise getrübt: Ein Großteil der Öffentlichkeit assoziiert Europa mit Misswirtschaft, Schulden und ständig wachsenden Rettungsschirmen.

Es ist ganz klar: Wir können in dieser globalisierten Welt mit ihren Unsicherheiten und Verteilungskämpfen Stabilität und Wohlstand dauerhaft nur in einer Union erhalten (Dr. Wolfgang Schäuble in der Rede zur Verleihung des Karlspreises am 17. Mai 2012). Doch je länger die Krise dauert, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass sich in Europa Grundlegendes ändern muss und dass ein "Weiter so" nicht der Ausweg sein kann. Für mich sind in diesem Kontext drei Aspekte entscheidend: Europa muss die Herzen der Menschen erreichen, Europa muss sozial und Europa muss demokratisch sein.

Europa muss die Herzen der Menschen erreichen

Ein vereintes Europa wird nur bestehen können, wenn Politik und gesellschaftliche Kräfte die Bürgerinnen und Bürger auch künftig für den europäischen Gedanken gewinnen, ja begeistern können. Der Präsident des Europäischen Rates, Herman van Rompuy, hat am 4. Juni 2012 in einer Veranstaltung in der Auferstehungskapelle im Brüsseler Europaviertel in eindrücklicher Weise seine Vision eines geeinten Europas vorgestellt. Er ist einer derjenigen europäischen Vordenker, denen es gelingt, angesichts der anhaltenden Debatte der Diskussion Tiefgang zu verleihen und das geistige Fundament Europas mit Substanz zu füllen. Van Rompuy attestierte unseren Gesellschaften eine "Sinnkrise".

Bezugnehmend auf den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und dessen Schrift "Ich und Du" erläuterte der Belgier, dass alles wirkliche Leben Begegnung sei. "Indem ich die Betonung auf den anderen lege, interessiere ich mich nicht für den anderen als Individuum, sondern für den anderen als Person, als Person, die ich im christlichen Sinne Nachbar, meinen Nachbar nenne. (…) Ich wünsche mir, dass sich das Schicksal Europas im Lichte dieser Philosophie der Zusammengehörigkeit, dieser Philosophie der Begegnung entfaltet." Diese Chance Europas, Begegnungen mit dem Anderen in seinem Andersein zu schaffen und dabei die eigene Identität zu festigen, ist gerade auch für Kirchen eine besondere Aufgabe. Denn Kirchen und Kirchengemeinden sind bestens geeignete Räume europäischer/ökumenischer Begegnungen. Kirchen und Religionsgemeinschaften bieten den Menschen ethische Orientierung und neue Sprache, um den Wert der europäischen Idee, von Freundschaft, Nachbarschaft und Solidarität zu vermitteln.
 
Europa muss sozial sein

Die Evangelische Kirche in Deutschland sieht sich in der Verantwortung, die Europäische Union im Sinne der Bürgerinnen und Bürger sozial und solidarisch mitzugestalten und gleichzeitig eine Brücke zwischen dem "abstrakten" politischen Europa und den Menschen vor Ort zu schlagen. Dieser Brückenschlag wird aber nur gelingen, wenn Europa als Solidargemeinschaft seine sozialen Konturen schärft, wie der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Nikolaus Schneider, am 9. Mai auf dem WDR-Europa-Forum in Brüssel erneut deutlichangemahnt hat. Zurzeit sind in der EU der 27 Mitgliedstaaten rund 23 Millionen Menschen arbeitslos, darunter erschreckend viele junge Menschen, so dass die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) bereits von einer "verlorenen Generation" spricht. Rund 113 Millionen Menschen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in erschreckendem Ausmaß immer weiter auseinander, auch in Deutschland.
 
Gemeinsam mit ihren Wohlfahrtsverbänden haben die beiden großen Kirchen sich sehr dafür eingesetzt, dass in die Europa-2020-Strategie für innovatives, nachhaltiges und integratives Wachstum das Ziel der Armutsbekämpfung aufgenommen wird (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 133). Bis 2020 soll die Zahl der Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, um 20 Millionen gesenkt werden. Das ist erstmals eine quantitative Vorgabe zum Thema Armut in einem EU-Papier, ein Anfang. Doch wirft man einen Blick in die nationalen Reformprogramme zur Umsetzung der Strategieziele, macht sich Ernüchterung breit. Es tut sich EU-weit viel zu wenig und ausgerechnet Deutschland geht mit schlechtem Beispiel voran.

Armut ist ein komplexes Phänomen, das entsprechend umfassender Antworten bedarf. Dass die Bundesregierung sich in ihrem im April 2012 vorgelegten Nationalen Reformprogramm allein darauf konzentriert, die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 320.000 Menschen zu reduzieren, ist angesichts der 16 Millionen von Armut gefährdeten Menschen in Deutschland das falsche Signal. Weitere Armutsindikatoren werden unverständlicherweise ausgeblendet. Denn es sind leider auch zunehmend Kinder, Alleinerziehende, Einwanderer, Ältere und Menschen mit Behinderungen, die von Armut bedroht sind. Viel stärker müsste auch das Phänomen der sog. "working poor", also der Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit in Armut leben, in den Blick genommen werden.

Mit der gleichen Verve, mit der die EU nun den wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen will, sollte sie den Kurs gegen Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung einschlagen. Das vorgeschlagene Job-Paket vom 19. April (siehe Artikel S. 12) ist ein erster Weg, aber solange die Vorschläge reinen Empfehlungscharakter haben, was etwa die Einführung eines Mindestlohns in allen EU-Mitgliedstaaten betrifft, wird sich wenig bewegen.

Nur ein wahrhaft solidarisches Europa ist meines Erachtens zukunftsfähig, wie es sich etwa seit Jahren in der europäischen Struktur-und Kohäsionspolitik ausdrückt (siehe Artikel S. 32). Schaffen es die politisch Verantwortlichen nicht, das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft auch in der Krise zu erhalten, werden die Menschen mit dem "Modell Europa" eine Gesellschaftsordnung der sozialen Ungerechtigkeit verbinden. Der daraus resultierende anti-europäische Reflex ist die vielleicht größte Gefahr für das Projekt Europa. Der Mensch und nicht die Märkte müssen im Mittelpunkt der Politik stehen. Eine weitere Regulierung der Finanzwirtschaft ist daher dringend nötig und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in einigen Mitgliedstaaten ein erster Schritt.

Europa muss demokratisch sein

Ein vereintes Europa muss aber wirklich demokratisch sein, gerade vor dem Hintergrund wachsender Kompetenzen der EU. Nur auf diese Weise werden die Menschen Entscheidungen, die gefühlt "so weit weg" getroffen werden, akzeptieren und mittragen. Ich bin davon überzeugt, dass wir Europa auf Dauer nur voranbringen durch eine neue politische Ordnung, die mit Pragmatismus und Flexibilität die nötigen Integrationsschritte beschreitet. Dass dies in unterschiedlichen Geschwindigkeiten geschieht, ist kein Novum, sondern in der Geschichte der EU ein altbekanntes Phänomen. Die europäische Integration hatte von Anfang an diesen Charakter des Unfertigen, diesen Prozesscharakter. Zur neuen politischen Ordnung gehört für mich außerdem mehr Klarheit im Hinblick auf Zuständigkeiten. Es gibt Kernbereiche nationaler Souveränität, die aus guten Gründen dort verbleiben sollten. Nicht alles muss in Brüssel geregelt werden, aber das was dort geregelt wird, bedarf der demokratischen Legitimation. Insofern ist ein echtes Initiativrecht des Europäischen Parlaments mittelfristig anzustreben.
Als Evangelische Kirche in Deutschland mischen wir uns in die EU-Politik ein und beziehen durchaus auch kritisch Stellung zu EU-Vorhaben. Wir tun das, weil wir an das vereinte Europa glauben und an die Worte von Jean Monnet: "Die europäische Einigung - das ist der Beitrag für eine bessere Welt."



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