Rechtsstaatlichkeit in Polen auf dem Prüfstand

(Helen Abram, Praktikantin)

Das Verfassungsgericht entmachtet, die Unabhängigkeit der Medien wird eingeschränkt – die neue Regierung in Polen sorgt für rechtsstaatliche Bedenken im eigenen Land und in Brüssel. Nun hat die EU-Kommission am 13. Januar 2016 den Rechtsstaatsmechanismus aktiviert, um mögliche Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu untersuchen.

Das neue Mediengesetz erlaubt der Regierung, über Führungsposten in den öffentlich-rechtlichen Medien zu entscheiden und Mandate von derzeitigen Amtsträgern zu beenden. Ein Medienrat mit Vertretern des nationalkonservativen Präsidenten und des Parlaments wird die bisherigen Kontrollgremien ersetzen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes erlöschen die Amtszeiten der Führungsmitglieder des öffentlich-rechtlichen Radios und Fernsehens mit sofortiger Wirkung. Über die Neubesetzung dürfte nun nach dem Gesichtspunkt der Parteitreue ent- schieden werden. Darüber hinaus ist die Umwandlung der öffentlich-rechtlichen Medien in nationale Kulturinstitute, die der Vermittlung patriotischen Gedankenguts verschrieben sind, geplant. Kritiker sehen in den Änderungen eine Gefahr für die Pressefreiheit.

Zuvor hatte die Regierung, gestellt von der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), bereits im Eiltempo eine Reform des Verfassungsgerichts durchgebracht, welche dessen Arbeitsfähigkeit und Unabhängigkeit stark einschränkt. Die PIS regiert im Sejm und der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, mit absoluter Mehrheit und stellt zudem in Person von Andrzej Duda seit dem Sommer auch den Staatspräsidenten. Zukünftig müssen alle Entscheidungen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, statt wie bisher mit einfacher Mehrheit, getroffen werden. Dabei müssen bei wichtigen Entscheidungen 13 der 15 Verfassungsrichter anwesend sein, um ein Urteil fällen zu können. Bisher waren neun Richter hierfür ausreichend.

Die PiS hat bereits einen Teil der Verfassungsrichter durch eigene Kandidaten ersetzt und kann sich somit auf eine Sperrminorität verlassen, die einen Einspruch gegen ihre Gesetze unmöglich machen dürfte. Dies bedeutet die faktische Entmachtung des Verfassungsgerichts. Dieses befürchtet darüber hinaus massive Verzögerungen, vor allem durch die neue verpflichtende drei- bis sechsmonatige Frist von der Anrufung des Gerichts bis zur Urteilsverkündung. Bisher galt hier eine Frist von zwei Wochen.

Die EU-Kommission wird nun genau analysieren, ob eindeutige Anzeichen für eine systembedingte Gefahr der Rechtsstaatlichkeit vorliegen. Das erst 2014 entwickelte Verfahren zum Schutze der Rechtsstaatlichkeit kommt damit erstmals zum Einsatz.

Dieses „Frühwarnsystem“ soll etwaige systembedingte Defizite im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten beseitigen, indem es einen offenen Dialog der Kommission mit dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglichen soll, um eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Eingeführt wurde es aufgrund der Bedrohung des rechtlichen und demokratischen Gefüges einiger Mitgliedsstaaten, wie sie etwa während der „Roma-Krise“ in Frankreich im Sommer 2010 oder durch die Verfassungsänderungen in Ungarn seit 2011 zu Tage traten. Bei der Durchführung des Verfahrens kann sich die EU-Kommission der Expertise anderer EU-Organe und internationaler Organisationen, z.B. des Europäischen Parlaments, der Grundrechteagentur, oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), bedienen. Vorgesehen sind drei Schritte:

Im ersten Schritt analysiert die Kommission, ob eindeutige Anzeichen für eine systembedingte Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsstaat bestehen. Geht die Kommission von einer solchen Gefahr aus, übermittelt sie dem betroffenen Mitgliedsstaat eine vertrauliche Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit (rule of law opinion). Darin begründet sie ihre Bedenken, die aus dieser Sachstandanalyse hervorgehen. Der Mitgliedsstaat kann hierzu Stellung beziehen.

Sollten sich die Rechtsstaatlichkeitsbedenken nicht durch die Stellungnahme der Kommission beseitigen lassen, richtet die Kommission im zweiten Schritt eine „Rechtsstaatlichkeitsempfehlung“ an den Mitgliedsstaat. Die Kommission empfiehlt dem Mitgliedsstaat, die genannten Probleme innerhalb einer bestimmten Frist zu lösen und die Kommission über die ergriffenen Maßnahmen zu benachrichtigen. Durch die Veröffentlichung des wesentlichen Inhalts der Empfehlung soll der Druck auf den Mitgliedsstaat erhöht werden.

In einem dritten Schritt überwacht die Kommission die vom Mitgliedsstaat in Hinblick auf ihre Empfehlung getroffenen Maßnahmen. Werden bis zum Ablauf der Frist keine zufriedenstellenden Maßnahmen ergriffen, kann die Kommission den Sanktionsmechanismus nach Art. 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) aktivieren. Dieser sieht unter anderem im Falle schwerwiegender und anhaltender Verletzung der Rechtsstaatlichkeit Sanktionen vor, wie den Entzug von Stimmrechten im Rat. Kommissionspräsident Jean-Claude  Juncker mahnte zu „konstruktiven Gesprächen“, um die freundlichen und guten Beziehungen zu Polen nicht zu gefährden. Auch ließ er die Möglichkeit eines Sanktionsverfahrens bislang offen und unerwähnt.

Für die Einleitung des Verfahrens bekam die Union nicht nur Zustimmung. Ratspräsident Donald Tusk kritisierte das Vorgehen der Kommission und warnte vor einem hysterischen Verhalten.

Sicher ist allerdings, dass die Auseinandersetzung um die Reform des Verfassungsgerichts auch in Polen weiter fortgesetzt wird. Das polnische Verfassungsgericht hat am 9. März 2016 mehrere Punkte des Gesetzes der Verfassungsreform der PiS-Regierung für verfassungswidrig erklärt. „Das Gesetz verhindert eine zuverlässige und reibungslose Arbeit des Gerichts“, sagte der Vorsitzende des Verfassungsgerichts. Deshalb müsse der Status vor der Gesetzesreform wiederhergestellt werden. Verfassungswidrig seien etwa die Bestimmungen, Fälle chronologisch und nicht nach ihrer Bedeutung zu bearbeiten und dass Urteile nur bei einer Zwei-Drittel-Mehrheit gültig sein sollen. Die polnische Regierung will das Urteil nicht anerkennen.

Neben der EU wird sich mit dem Europarat eine weitere europäische internationale Institution zu den Reformen in Polen äußern. Für den 11. oder 12. März 2016 ist die Veröffentlichung eines Berichts der Venedig-Kommission, einem Gremium von Rechtsexperten des Europarats, geplant, der die Reformen in Polen beleuchtet. In einem geleakten Entwurf des Gutachtens kamen die Rechtsexperten in Verfassungsfragen zu dem Ergebnis, dass die unklare Lage um das Verfassungsgericht in Polen eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte in Polen darstelle.

Noch vor der Veröffentlichung positionierte sich der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski deutlich und sagte, dass Polen keine Kolonie sei und sich nicht der Meinung fremder Herren unterwerfen werde.

Das Ringen um die Rechtsstaatlichkeit in Polen hat gerade erst begonnen.



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