Europas soziales Triple-A – Zeit für eine soziale Gesamtstrategie

(Ein Gastbeitrag von Stefan Gran)

„Ich möchte ein Europa mit einem sozialen Triple- A. Ein soziales Triple-A ist genauso wichtig wie ein wirtschaftliches und finanzielles Triple-A.“ Mit diesen Worten hatte Ende 2014 der damals noch neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versucht, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments für seine neue Kommissionsmannschaft zu gewinnen. Dabei war die Analogie zur Sprache der Finanzmärkte sicherlich gewollt, schließlich wurden in den schweren Krisenjahren nach 2009 alle Politikbereiche dem Ziel eines guten Finanzmarktratings untergeordnet. So gab es zwar auch schon vor der Finanzmarktkrise einen langanhaltenden Stillstand im sozial- und beschäftigungspolitischen Bereich der Union, die Politikempfehlungen und -handlungen der europäischen Institutionen zur Lösung der Krise haben in vielen Regionen Europas aus einem Stillstand jedoch einen sozialen Kahlschlag werden lassen. Die Folgen spiegeln sich bis heute in den hohen Arbeitslosen- und Armutszahlen wieder. Von dem einstigen Ziel einer hohen sozialen und wirtschaftlichen Konvergenz ist Europa heute weiter entfernt als noch vor zehn Jahren. In vielen Bereichen hat sich der Trend sogar umgekehrt und es kann eine anhaltende Tendenz zur Divergenz beobachtet werden.

Juncker hatte sich bereits früh mit dieser Problematik beschäftigt und den Sprengstoff erkannt, den eine steigende Divergenz für das Europäische Projekt bedeutet. Bereits im November 2006 hat er in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau davor gewarnt, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Europa abwenden würden, wenn Europa es nicht schaffen würde, die sozialen Fragen zu adressieren und Lösungen anzubieten. Die heutige Entsolidarisierung und der neu auf- flammende Nationalismus in Europa sollte ihm leider Recht geben. Ein Umsteuern ist also dringend geboten. Auch deshalb hat er seine Kommission vermutlich als die Kommission der letzen Chance bezeichnet. Wenn sie es nicht schafft, aus Europa mehr als einen kalten Binnenmarkt zu machen, wird es scheitern.

Doch was ist denn nun wirklich unter einem sozialen Triple-A zu verstehen? So genau lässt sich das vermutlich nicht definieren. Das soziale Triple-A kann als Synonym für den ebenfalls sehr allgemeinen Begriff „soziales Europa“ verstanden werden, unter dem man alles und nichts subsumieren kann. Es beschreibt sicherlich keinen festen Ist- oder Sollzustand. Vielmehr ist es der Versuch, ein politisches Ziel zu definieren, welches vermutlich nie erreicht wird. Wie so oft ist der Weg bereits das Ziel, zumindest wenn die richtige Richtung eingeschlagen wurde. Die Zielerreichung ist damit eine stetige Aufgabe, zu der alle Politikbereiche beizutragen haben. Dafür bedarf es jedoch einer umfassenden Gesamtstrategie, der sich die Generaldirektion Wirtschafts- und Währung genauso verbunden fühlen muss, wie die Generaldirektionen Binnenmarkt, Beschäftigung usw. Jeder neue Legislativvorschlag muss darauf abgeklopft werden, wie er zur Verwirklichung des sozialen Europas beitragen kann, oder ob er ihm eventuell im Wege steht. Hauptziele müssen dabei sicherlich ein hoher Grad an guter Arbeit, Bildung und der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung darstellen.

Grundvoraussetzung einer erfolgsversprechenden Strategie muss jedoch auch eine Abkehr von der immer noch vorherrschenden Austeritätspolitik hin zu einer Politik für Wachstum und gute Beschäftigung sein. Die europäischen Gewerkschaften for- dern bereits seit einigen Jahren einen europäischen Investitionsplan von jährlich 2% des BIP für einen Zeitraum von 10 Jahren. Komissionspräsident Juncker hatte diese Forderung bereits zu Beginn sei- ner Amtszeit aufgegriffen und den Europäischen Investitionsfonds EFSI ins Leben gerufen. Dieser ist jedoch von seinem Volumen her weit von den 2% des jährlichen BIP entfernt und wird daher die Hoffnungen entäuschen müssen, die in ihn gesetzt worden waren.

Eine Politik, die ein soziales Triple-A verdient, muss dafür sorgen, dass der Sozialstaat solide finanziert werden kann und damit die staatliche Einnahme- seite in den Fokus des politischen Handelns rücken. Dazu gehört eine weitergehende Regulierung der Finanzmärkte sowie ein Ende des ruinösen Steuerwettbewerbs. Eine Harmonisierung im Bereich der Körperschaftssteuer bei gleichzeitiger Einführung von Mindeststeuersätzen tragen zu soliden Staatsfinanzen genauso bei wie Eurobonds helfen können, die Lasten der Finanzierung solidarisch zu teilen.

Der Kernbereich des sozialen Europas bildet aber unweigerlich eine bessere, europäisch koordinierte Sozial- und Beschäftigungspolitik. Neben dem Austausch von best practice Beispielen im Bereich der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung sowie der Festsetzung von sozialen Benchmarks im Rahmen des Europäischen Semesters brauchen wir auch bessere Sozialgesetzgebung auf der europäischen Ebene. Im Rahmen von Richtlinien müssen neue Mindeststandards zum Beispiel im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes gesetzt und alte Standards den Realitäten nach oben angepasst werden. Dabei muss klar und deutlich unterstrichen werden, dass Mindeststandards keine Minimalstandards sind und sein werden.

Im Bereich der Sozialversicherung sollte nicht der Versuch der Harmonisierung unternommen werden. Die Diskussion über eine europäische Arbeitslosenversicherung beispielsweise mag aus ökonomischen Gesichtspunkten interessant und sinnvoll sein. Denn in der Tat braucht es in einer Währungs- union automatischer Ausgleichs- und Transfermechanismen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig über die Arbeitslosenversicherung und damit allein über die Beiträge von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern organisiert werden. Sozialpolitisch wäre es interessanter, sich der Frage nach der Höhe der sozialen Absicherung anzunehmen und auch hier europäische Mindeststandards zu setzen. Hier wäre eine Rahmenrichtlinie für ein europäisches Mindesteinkommen die richtige Antwort. Wie dieses Mindesteinkommen organisiert (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Renten usw.) und finanziert (Steuern oder Beiträge) wird, muss dabei den Mitgliedsstaaten überlassen werden.

Um eine soziale Konvergenz nach oben zu verwirklichen, müssen Standards regelmäßig überprüft und nach oben angepasst werden. In der Vergangenheit ist eine Anpassung der Standards jedoch regelmäßig an der Untätigkeit der Kommission gescheitert. Dort wo die Sozialpartner in gemeinsamen Verhandlungen eigene Sozialpartnervereinbarungen abgeschlossen haben, weigert sie sich bis heute, diese dem Rat zur Beschlußfassung vorzulegen. Dies steht klar im Widerspruch zu einer Strategie, die sich einem sozialen Triple-A verpflichtet fühlt.

In den kommenden Monaten wird es nun darauf ankommen, ob die Europäische Kommission ihren Worten auch Taten folgen lässt. Juncker scheint erkannt zu haben, dass er jetzt liefern muss. Fraglich bleibt jedoch, ob dies auch alle seiner Kommissarinnen und Kommissare erkannt haben. Hinzu kommen die Mitgliedsstaaten, die beim sozialen Europa mehr und mehr zum Bremsklotz werden. Die Zugeständnisse der Staats- und Regierungschefs an das Vereinigte Königreich zeigen deutlich, dass sie bereit sind, das soziale Europa zur Verhandlungsmasse zu degradieren. Aus diesem Grund muss jetzt die Kommission vorangehen und ein deutliches Zeichen für ein soziales Europa setzen. Sollte sie jedoch abermals nur mit schönen Worten und wenig Taten glänzen wollen, wird sie die letzte Chance leichtfertig verspielen.

Stefan Gran ist Leiter der Verbindungsstelle Europapolitik des DGB Bundesvorstandes in Brüssel.



erweiterte Suche