"Mehr Europa" - Anmerkungen zu einem populären Schlagwort

(Christoph Schnabel)

In der Planung von Projekten bildet ein Dreieck aus Zeit, Kosten und Qualität das Grundmuster. Ein höherer Zeitaufwand bedingt steigende Kosten bei steigender Qualität. Geringere Kosten bedeuten geringere Qualität bei einem ebenso geringeren Zeitaufwand usw.: Dieses simple Planungsmuster lässt sich auch auf das europäische Projekt übertragen, hier lauten die Parameter allerdings Erweiterung, Vertiefung und Demokratie. "Von den drei Zielen der EU lassen sich stets nur zwei gleichzeitig erreichen, auf Kosten des jeweils dritten Ziels. Wer die Demokratie erhalten will, muss daher Abstriche bei der Vertiefung machen." Diese Argumentation von PD Dr. Martin Höpner (FAZ vom 27. April 2012), Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung,  greift ein wesentliches Problem auf. Die demokratische Qualität der Europäischen Union ist in Teilen noch mangelhaft. Das Europäische Parlament hat zwar mit dem Vertrag von Lissabon weitere Kontrollkompetenzen und Mitentscheidungsrechte erhalten, jedoch beleibt die Dominanz der nationalen Regierungen bestehen. "Solange die europäischen Bürger allein ihre nationalen Regierungen als Handelnde auf der europäischen Bühne im Blick haben, nehmen sie die Entscheidungsprozesse als Nullsummenspiel wahr, in denen sich die eigenen Akteure gegen die anderen durchsetzen müssen", konstatierte Jürgen Habermas (2011). Er charakterisiert den gegenwärtigen europapolitischen Zustand als "postdemokratischen Exekutivföderalismus".

Mehr parlamentarische Kontrolle und demokratische Mitbestimmung stellen Auswege aus diesem Dilemma dar. Dass dies nicht nur vage theoretische Abhandlungen sind, wurde unlängst von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble nahegelegt. Mit der Forderung nach einem direkt gewählten Präsidenten der Kommission und der Fortentwicklung der Europäischen Kommission "zu einer echten Regierung" (Treffpunkt Gendarmenmarkt am 26. März 2012) sind bereits konkrete Reformvorschläge in der Debatte angekommen. Auch Bundeskanzlerin Merkel kündigt an, dass "Schritt für Schritt Kompetenzen vergemeinschaftet" werden müssen und die Kommission "so etwas wie eine europäische Regierung" sein soll" (Prag, 3. April 2012).
 
Den Forderungen nach einer politischen Un ion stehen auch kritische Stimmen gegenüber. "Was Kompetenzverlagerungen angeht, sind wir jetzt schon an der Grenze dessen angelangt, was die Verfassung erlaubt", stellt der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach den Äußerungen Wolfgang Schäubles gegenüber ("Stern" vom 26. Juni 2012).
 
Einigkeit herrscht jedoch in der Auffassung, dass eine differenzierte Integration notwendig ist. Diese Einschätzung wird sogar von den traditionell euroskeptischen britischen Politikern geteilt. David Cameron, Premierminister von Großbritannien, kündigte eine Volksabstimmung diesbezüglich an und verwies explizit drauf, dass eine radikale "Ja-/Nein"-Entscheidung nicht zielführend sei. Besonders der europäische Binnenmarkt und die Kooperation in sicherheits- und außenpolitischen Bereichen stellten einen Mehrwert für Großbritannien dar.

Hierbei kommt erneut der Aspekt der Qualität zu tragen. Welchen ökonomischen und politischen Nutzen stellt eine verstärkte Integration dar? Das Demokratiedefizit konnte bislang durch eine "Legitimität durch Leistung" (Kohler-Koch 2004) ersetzt werden. Die Zustimmung zu der Europäischen Union war besonders durch diejenigen Länder gesichert, die durch einen Beitritt und durch die Integration in den Binnenmarkt einen Wohlfahrtsgewinn und bessere Lebensstandards verzeichnen konnten.

Die sinkende Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu einer EU-Mitgliedschaft ihres jeweiligen Landes wird mit schlechteren ökonomischen Aussichten zunehmen. Auch ist die These einer "Output-Legitimation" (Scharpf 1998) ins Wanken geraten. Es ist also an der Zeit, sich erneut "Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" zu machen (Fischer 2000).

Weiterführende Literaturhinweise:
Die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 03. April 2012 finden Sie unter
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2012/04/2012-04-03-merkel-prag.html.

Beate Kohler-Koch:
Europäische Integration - Europäisches Regieren. VS Verlag, 2004.

Joschka Fischer: Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Suhrkamp Verlag, 2000.

Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas - Ein Essay. Suhrkamp Verlag , 2011.

Fritz W. Scharpf: Interdependence and Democratic Legitimation MPIfG Working Paper 98;
http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de/pu/workpap/wp98-2/wp98-2.html.

Martin Höpner, Armin Schäfer: Die Politische Ökonomie der europäischen Integration. Campus Verlag, 2008.

Werner Weidenfeld, Wolfgang Wessels: Jahrbuch der Europäischen Integration. 2011, Nomos 2012.



erweiterte Suche