Auf der Zielgeraden? Die Verhandlungen um das gemeinsame europäische Asylsystem (GEAS)

(Katrin Hatzinger)

Nach der intensiven Arbeiten der dänischen Ratspräsidentschaft scheint es so, als könnten die Verhandlungen über die Neufassung der Asylrechtsinstrumente tatsächlich im 2. Halbjahr unter dem Vorsitz von Zypern abgeschlossen werden. Zur Revision stehen weiterhin u.a. die Asylverfahrensrichtlinie und die Dublin-II-Verordnung an. Eine politische Einigung wurde am 13. Juli 2012 über die Richtlinie über Aufnahmebedingungen erzielt - aus flüchtlingspolitischer Sicht ein fauler Kompromiss.
Das Europäische Parlament, die Europäischen Kommission und die jeweilige Ratspräsidentschaft verhandeln im sog. Trialogverfahren, weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als sehr problematisch erweist sich insbesondere die Neufassung der Regelung zur Inhaftierung von Asylsuchenden.

Das bisherige europäische Asylrecht definiert keine Inhaftierungsgründe für Asylsuchende, sondern regelt in der Asylverfahrensrichtlinie (Art. 18) lediglich, dass Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil es sich bei ihr um einen Asylbewerber handelt. Bei einer etwaigen Inhaftierung soll außerdem eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams möglich sein.

Noch 2009 stellte die Kommission fest: "Angesichts der weit verbreiteten Anwendung von Gewahrsamsmaßnahmen im Asylbereich durch die Mitgliedstaaten und der sich festigenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte erachtet es die Kommission für notwendig, diese Frage in der vorliegenden Richtlinie ganzheitlich anzugehen, um sicherzustellen, dass Ingewahrsamsmaßnahmen nicht willkürlich erfolgen und in allen Fällen die Grundrechte beachtet werden." Im internationalen Flüchtlingsrecht gilt nämlich der Grundsatz, dass allein die Stellung eines Asylantrags keinen Haftgrund begründet. Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention legt fest, dass Asylsuchende wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalt grundsätzlich nicht zu bestrafen sind. Haftgründe sollten entsprechend eng gefasst und genau umrissen sein. Auf Druck der Mitgliedstaaten sah sich die Kommission jedoch veranlasst, ihren ersten Entwurf zurückzuziehen (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 137) und präsentierte 2011 eine neue Version der Aufnahmebedingungsrichtlinie, die u.a. die Reihe der Haftgründe ausgeweitet hat. Diese Ausweitung wurde nun von den Verhandlungsparteien angenommen.

Angesichts der umfassenden Haftgründe, die sich in Art. 8 Abs. 3 lit. a) bis f) der neuen Aufnahmebedingungsrichtlinie finden, sowie der Möglichkeit, auch Minderjährige festzunehmen (Art. 11 Abs. 2), ist nun zu befürchten, dass die Inhaftierungspraxis in der EU noch ausgeweitet werden wird bzw. die derzeitige ausufernde Inhaftierungspraxis einzelner Mitgliedstaaten wie Griechenland und Ungarn eine Legitimierung erfahren dürfte. Als problematisch stellen sich dabei u.a. dar:

  1. Identitätsfeststellung (Art. 8 Abs. 3 a): Dieser Haftgrund ermöglicht fast ausnahmslos jeden einreisenden Asylsuchenden festzunehmen, da Schutzsuchende oft ohne Papiere einreisen bzw. die Papiere von den Behörden angezweifelt werden.
  2. Beweissicherung (Art. 8 Abs. 3 b): Dieser Haftgrund ermöglicht eine Inhaftierung, wenn die dem Asylgesuch zugrundeliegenden Beweismittel nur auf diese Weise gesichert werden können. Diese Regelung verstößt dennoch gegen die Grundprinzipien des Verwaltungsrechts: Ein Antragsteller ist für den Nachweis der seinen Anspruch begründenden Tatsachen selbst verantwortlich. Eine Festnahme zur Sicherung dieser Tatsachen ist daher systemfremd.
  3. Verfahren zur Bestimmung des Einreiserechts und bei verspäteter Asylantragstellung (Art. 8 Abs. 3 c): Dieser Haftgrund sieht vor, dass Asylsuchende festgenommen werden können, wenn im Verfahren noch geklärt werden soll, ob sie in einen Mitgliedstaat einreisen dürfen. Er könnte künftig als Rechtsgrundlage für das deutsche Flughafenverfahren dienen. Der Haftgrund der verspäteten Asylantragstellung berührt das Recht der Asylsuchenden aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) - eine Inhaftierung ist dort nur für Ausreisepflichtige vorgesehen, trifft also auf die Situation von Asylsuchenden gerade nicht zu.
  4. Anordnung der Haft durch Verwaltungsbehörden (Ar. 9 Abs. 2): Die Anordnung der Ingewahrsamnahme stellt einen schweren Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit dar, dementsprechend bedürfen derartige Entscheidungen der richterlichen Anordnung und könnten nicht von  Verwaltungsbehörden durchgeführt werden.
  5. Inhaftierung von Minderjährigen (Art. 11 Abs. 2): Art. 11 des Entwurfes der Aufnahmebedingungsrichtlinie sieht die Möglichkeit vor, Minderjährige und in bestimmten Fällen auch unbegleitete Minderjährige, unter bestimmten Voraussetzungen zu inhaftieren. Diese Regelung ist unverhältnismäßig und widerspricht dem Kindeswohl. Die EKD hat sich deshalb immer dafür ausgesprochen, Minderjährige überhaupt nicht zu inhaftieren, sondern die Unterbringung in speziellen Jugendhilfeeinrichtungen vorzusehen.

Strittig war bis zuletzt die von EP und Kommission geforderte automatische Überprüfung der Haftanordnung innerhalb von 72 Stunden durch ein Gericht sowie die Art und Weise der Identifikation der Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Asylsuchender. Die politische Einigung sieht nun keine automatische Überprüfung mehr vor. Zudem werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Bedürfnisse der besonders Schutzbedürftigen zu identifizieren, allerdings nicht im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens. Einigkeit besteht nun auch darüber, dass die Asylsuchenden nach neun Monaten Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt erhalten sollen. Die formale Annahme durch das EP wird für September erwartet.
Die Verhandlungen über die Überarbeitung der Dublin-II-Verordnung und die Asylverfahrensrichtlinie werden nach der Sommerpause indes weitergehen. Allerdings vermeldeten die Zyprioten am 18. Juli 2012, dass sich der Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) über die Neufassung der Dublin-II-Verordnung verständigt habe. Sollte das EP gleichfalls zustimmen, könnte über das Dossier Anfang Dezember im Plenum abgestimmt werden. Einzelheiten über den endgültigen Verordnungstext wurden allerdings nicht bekannt. Fest steht nur, dass ein Frühwarnsystem eingerichtet wird. Der ursprüngliche Vorschlag der EU-Kommission, den Überstellungsmechanismus auszusetzen, wenn der zuständige Mitgliedstaat besonderem Druck ausgesetzt ist oder wenn zu befürchten ist, dass das Schutzniveau in dem betreffenden Staat unzureichend ist, war leider nicht mehrheitsfähig. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sowie Kirchen und NGOs fordern zudem seit Monaten u.a. eine breitere Definition von Familienangehörigen, die Berücksichtigung des Kindeswohls beim Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, die Möglichkeit gegen einen Überstellungsbescheid einen aufschiebenden Rechtsbehelf einzulegen, mit den Betroffenen im Verfahren Interviews durchzuführen und Inhaftierungen im Dublin-Verfahren nur so kurz wie möglich anzuwenden.

Die Überarbeitung der Asylverfahrensrichtlinie wirft schließlich aufgrund ihrer Komplexität besonders viel Fragen auf. Problematisch ist weiterhin die vorgesehene Möglichkeit beschleunigter Verfahren mit eingeschränkten Verfahrensrechten für Antragssteller. Die beschleunigten Verfahren sollten nach Ansicht von Kirchen und NGOs nur in ganz eng definierten Ausnahmefällen zur Anwendung kommen dürfen. Für unbegleitete Kinder sind diese Verfahren gar nicht geeignet. Gleiches gilt für die Anwendung sog. Grenzverfahren ("border procedures"). Aus flüchtlingsrechtlicher Sicht unakzeptabel bleiben das Konzept des sicheren Dritt- bzw. Herkunftsstaates, genauso wie die Idee sog. "Supersicherer Drittstaaten", die vorsieht, Antragssteller ohne Prüfung ihrer Gesuche umgehend in diese Staaten zurückzuschicken. Ob wir bis Ende 2012 wirklich von einem "Gemeinsamen Europäischen Asylsystem" sprechen können, das den Namen verdient hat?

Die aktuellen Forderungen des UNHCR an die zyprische Ratspräsidentschaft finden Sie unter:



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