Generalanwältin vs. Generalanwältin: Der Streit ums Kopftuch geht in eine neue Runde

(Julia Maria Eichler)

Der Streit um das Kopftuchverbot in privaten Unternehmen wird höchstrichterlich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in den nächsten Monaten entschieden werden. Wohin die Reise gehen wird, ist aber nach wie vor offen. Die Entscheidung wird für die Richter nicht einfacher, nachdem innerhalb von sechs Wochen zwei Generalanwältinnen zu zwei ähnlich gelagerten Fällen unterschiedliche Rechtsauffassungen vorgelegt haben.

Zuletzt hatte die Generalanwältin Elenora Sharpston in ihren am 13. Juli 2016 veröffentlichen Schlussanträgen in der Rechtssache C-188/15 vertreten, dass eine „Unternehmenspraxis, nach der eine Arbeitnehmerin beim Kontakt mit Kunden kein islamisches Kopftuch tragen darf, eine rechtswidrige unmittelbar Diskriminierung" darstelle.

Die zugrundeliegende Rechtssache wurde dem EuGH vom französischen Cour de cassation vorgelegt. Geklagt hatte die Projektingenieurin Bougnaoui, die seit 2008 bei einem IT-Beratungsunternehmen angestellt war und zeitweise bei der Arbeit ein Kopftuch trug. Teil ihrer Aufgaben war es auch, Kunden des IT-Unternehmens in deren Geschäftsräumen zu besuchen. Einer dieser Kunden beschwerte sich über das Kopftuch von Frau Bougnaoui, weil seine Mitarbeiter hieran „Anstoß genommen" hätten. Die Forderung, beim nächsten Mal kein Kopftuch zu tragen, lehnte Frau Bougnaoui ab und wurde daraufhin entlassen, weil sie „wegen ihrer Weigerung, ihr Kopftuch abzulegen, ihre Aufgaben für das Unternehmen nicht wahrnehmen könne.".

Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, falle als integraler Bestandteil der Religionsfreiheit in den Geltungsbereich der Beschäftigungsrahmenrichtlinie (2000/78/EG), so Sharpston in ihren Schlussanträgen. Diese dient auf europäischer Ebene dazu, einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung zu schaffen (Art. 1 der Richtlinie).

In dem vorliegenden Fall sei eine Benachteiligung gegeben, so die Generalanwältin, denn ein Projekt-ingenieur, der seine Religion oder Weltanschauung nicht bekannt hätte, wäre nicht entlassen worden. Mithin liege eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung vor, die nur rechtmäßig sei, wenn eine der in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen vorliege.

Eine Ausnahme sei gegeben, wenn die Diskriminierung wegen eines Merkmals erfolgt sei, dass eine „berufliche Anforderung" gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie darstelle. Da Ausnahmen grundsätzlich eng auszulegen sein, müsse es sich um eine „wesentliche und entscheidende Anforderung" handeln, die in angemessenem Verhältnis zum verfolgten rechtmäßigen Zweck stehe.

Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben. Es „sei nicht ersichtlich, dass Frau Bougnaoui ihre Aufgaben als Projektingenieurin nicht habe wahrnehmen können, weil sie ein islamisches Kopftuch getragen habe". Zweifel an der fachlichen Kompetenz habe es nicht gegeben. Die unternehmerische Freiheit (Art. 16 der EU-Grundrechte-Charta) sei zwar ein Unionsgrund-satz, fände aber seine Grenzen im Erfordernis des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer. Po-tentielle finanzielle Nachteile des Arbeitgebers könnten eine unmittelbare Diskriminierung jedenfalls nicht rechtfertigen.

Weitere Ausnahmetatbestände seien hier nicht einschlägig. Insbesondere sei das Verbot für Ange-stellte, im Kontakt mit Kunden des Arbeitgebers religiöse Kleidung zu tragen, nicht zum Schutz der für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unerlässlichen individuellen Rechte und Freiheiten notwendig.

Bereits am 31. Mai 2016 hatte die deutsche Generalanwältin Juliane Kokott in der Rechtssache C-157/15 ihre Schlussanträge vorgelegt, in denen sie eine unmittelbare Diskriminierung durch ein Kopftuchverbot hingegen ablehnte. In der Rechtssache hatte eine Muslima als Rezeptionistin bei einer belgischen Firma, die Bewachungs- und Sicherheitsdienste sowie Rezeptionsdienstleistungen erbringt, gearbeitet. In dem Unternehmen war das Tragen sichtbarer religiöser, politischer und philosophischer Zeichen generell verboten. Die Klägerin hatte nach dreijähriger Tätigkeit in dem Unternehmen ohne Kopftuch angekündigt, zukünftig auch während der Arbeitszeit ein Kopftuch tra-gen zu wollen. Nach einem Hinweis auf das Neutralitätsgebot wurde die Klägerin, wegen der fes-ten Absicht ein Kopftuch zu tragen, schließlich gekündigt.

Nach Ansicht der Generalanwältin Kokott ist das Verbot, in einem Unternehmen ein Kopftuch zu tragen, zulässig, wenn es sich auf eine allgemeine Betriebsregelung stützt, nach der sichtbare politische, philosophische und religiöse Zeichen am Arbeitsplatz untersagt sind, und zur Durchsetzung der vom Arbeitgeber verfolgten legitimen Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität gerechtfertigt ist. Es lasse sich weder eine Benachteiligung der Angehörige einer bestimmten Religionsgemeinschaft gegenüber den Anhängern anderer Religionen feststellen, noch eine Benachteiligung religiöser Personen gegenüber nicht religiösen Personen oder bekennenden Atheisten. Eine unmittelbare Diskriminierung liege daher nicht vor. Da die Regelung aber faktisch geeignet sei, zu einer Benachteiligung von Personen bestimmter Religionen zu führen, könne es sich um eine mittelbare religiöse Diskriminierung handeln. Auch diese könne gerechtfertigt sein, wenn es sich um „eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung" handele, die verhältnismäßig sei.

Dies sei nach objektiven Gesichtspunkten mit Rücksicht auf alle relevanten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen. Dabei gehöre es zum Grundrecht der unternehmerischen Freiheit, dass der Unternehmer grundsätzlich bestimmen dürfe, in welcher Art und Weise sowie unter welchen Bedingungen die im Betrieb anfallende Arbeit organisiert werde. Dabei könne der Unternehmer dem Arbeitnehmer im Rahmen etwaiger von ihm definierter Unternehmenspolitik vorschreiben, sich am Arbeitsplatz in einer bestimm-ten Weise zu verhalten. Dies gelte umso mehr in dem Fall der Klägerin, die regelmäßig Kundenkon-takt hatte.

Die hier gewählte Neutralitätspolitik gehe nicht über die Grenzen des unternehmerischen Beurtei-lungsspielraums hinaus. Die Generalanwältin betont, dass sich die Neutralitätspolitik in diesem Fall geradezu aufgedrängt habe, nicht nur wegen der Vielfalt der Kundschaft im öffentlichen und privaten Sektor, sondern auch wegen der besonderen Art der ausgeübten Tätigkeiten der Klägerin, die im ständigen Kontakt von Angesicht zu Angesicht mit außenstehenden Personen stand.

Bezüglich der Verhältnismäßigkeit stehe den nationalen Gerichten ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Es bedürfe nicht notwendigerweise einer „Einheitslösung für die gesamte Europäische Union". Vielmehr sei es ausreichend, auf die maßgeblichen Gesichtspunkte hinzuweisen, die zu berücksichtigen seien und den Gerichten die konkrete Interessenerwägung zu überlassen.

Die Generalanwältin wies im Folgenden darauf hin, dass das Verbot ohne Zweifel zur Verwirklichung der Neutralitätspolitik des Unternehmens geeignet sei. Das Verbot sei klar und eindeutig, nicht in sich widersprüchlich und würde vom Arbeitgeber konsequent angewendet und in kohärenter und systematischer Weise gegenüber allen Arbeitnehmern durchgesetzt. Es sei auch erforderlich, da kein milderes gleich wirksames Mittel ersichtlich sei. So sei z.B. eine Dienstkleidung/Uniform mit passendem Kopftuch zwar eine für die Arbeitnehmerin weniger einschneidende Maßnahme, allerdings zur Erreichung des legitimen Ziels der religiösen und weltanschaulichen Neutralität überhaupt nicht geeignet. Denn auch ein stilistisch auf die Dienstkleidung abgestimmtes Kopftuch bleibt ein sichtbares religiöses Zeichen.

Zuletzt dürfe die Maßnahme keine Nachteile verursachen, die nicht im Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen. Dabei spreche vieles dafür, dass das Verbot die berechtigten Interessen der betroffenen Klägerin nicht übermäßig beeinträchtige und somit auch als verhältnismäßig anzusehen sei.

Religion sei für viele Menschen ein wichtiger Teil ihrer persönlichen Identität. Zudem strahle das Grundrecht der Religionsfreiheit als eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft und Ausdruck des europäischen Wertsystems mittelbar auch auf private Arbeitsverhältnisse aus.

Dabei sei zu beachten, dass das umstrittene Verbot nicht die Religion an sich betreffe oder die Zugehörigkeit des Mitarbeiters, sondern sich lediglich auf das aus der Kleidung sichtbare äußere Bekenntnis zu ihrer Religion beziehe und damit auf einzelne Aspekte der Religion. Zwar könne auch dieser Teil der Religionsausübung ein wichtiger Teil der Ent-faltung der Persönlichkeit sein, anders aber als beim Geschlecht, der Hautfarbe, der sexuellen Ausrichtung, dem Alter und der ethnischen Herkunft handele es sich aber bei der Religion weniger um eine unabänderlichen Gegebenheit als viel-mehr um einen privaten Aspekt der Lebensführung. Während man seine Hautfarbe, sein Geschlecht und seine Behinderung usw. nicht an der „Garderobe" abgeben könne, könne bei der Religionsausübung am Arbeitsplatz eine gewisse Zurückhaltung zugemutet werden, sei es hinsichtlich religiöser Praktiken, religiös motivierter Verhaltensweise oder hinsichtlich der Bekleidung.

Das Maß der Zurückhaltung sei dabei von einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände des jeweiligen Einzelfalls abhängig, insbesondere Größe und Auffälligkeit des Symbols, Tätigkeit und Kontext der Tätigkeit.

Zuletzt sei auch die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, wie sie in ihrer grundle-genden und verfassungsmäßigen Struktur zum Ausdruck kommt (Art. 4 Abs. 2 Vertrag über die Europäische Union). Dies bedeutet, dass in Ländern, in denen der Laizismus Verfassungsrang habe, stärkere Einschränkungen für das Tragen sichtbarer religiöser Zeichen gelten könnten, als in Mitgliedstaaten mit anderen Verfassungsordnungen.

Auch Generalanwältin Sharpston äußerte sich für den Fall, dass der Gerichthof entgegen ihrer Rechtauffassung eine mittelbare Diskriminierung annehmen würde. Wie Kokott geht auch sie davon aus, dass die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit letztendlich den nationalen Gerichten obliegt, aber auch sie weist auf grundlegende Erwägungen hin.

So erachtet auch Generalanwältin Sharpston „eine Politik, wonach Arbeitnehmer eine Uniform oder Bekleidung eines bestimmten Stils zu tragen oder ein „gepflegtes" äußeres Erscheinungsbild zu wahren haben", als „rechtmäßigen Ziels". Die unternehmerische Freiheit könne jedoch keine uneinge-schränkte Geltung beanspruchen, sondern unterliege Einschränkungen, soweit diese u. a. gesetzlich vorgesehen seien.

Dabei betont die britische Generalanwältin, dass die Anforderungen des Glaubens – seinen Ordnung und die Regeln, die er für die Lebensführung der Gläubigen vorgibt – nicht etwas sein, was lediglich außerhalb der Arbeit gelte, also etwa am Feierabend oder Wochenende, aber während der Arbeitszeit höflich abgelegt werden könne. Sie widerspricht damit deutlich der Argumentation ihrer deutschen Kollegin: „Natürlich mag je nach den jeweiligen Regeln der betreffenden Religion und dem Maß der Betätigung der einzelnen Person dieses oder jenes Element für diese Person nicht zwingend und daher verhandelbar sein. Doch wäre die Annahme gänzlich verfehlt, dass zwar das Geschlecht und die Hautfarbe jeden Menschen überall hin begleiten, seine Religion jedoch nicht."

Der Ausgangspunkt jeder rechtlichen Würdigung müsse daher das Recht, religiöse Bekleidung und Zeichen zu tragen, sein. Der Arbeitgeber könne jedoch auch das Recht haben, Beschränkungen vorzusehen.

Gebe es etwa eine Uniform im Unternehmen, sei es nicht unzumutbar, „von den Arbeitnehmern zu verlangen, das Möglichste zu tun, um ihr zu entsprechen". Es könne daher vorgeschrieben werden, dass die Wahl des islamischen Kopftuchs der Farbe der Uniform angepasst werde.

Elenora Sharpston verweist dabei auf einen besonderen Aspekt. In der westlichen Gesellschaft komme dem „Blick- oder Augenkontakt grundlegende Bedeutung in jedem Verhältnis zu, bei dem eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zwischen Vertretern eines Unternehmens und seinen Kunden" stattfinde. Hieraus schlussfolgert sie, „dass eine Regelung verhältnismäßig wäre, mit der ein Verbot des Tragens von die Augen und das Gesicht vollständig verdeckender religiöser Bekleidung während einer Tätigkeit eingeführt würde, bei der ein solcher Kontakt mit Kunden stattfindet". „Umgekehrt fiele die Rechtfertigung für dieselbe Regelung weg, wenn der betreffende Arbeitnehmer in einer Position eingesetzt werden soll, bei der kein Blick- oder Augenkontakt mit Kunden stattfindet, z. B. in einem Call-Center." Daher sei für sie, wenn der Arbeitnehmer lediglich eine Form der Kopfbedeckung tragen will, die das Gesicht und die Augen völlig frei lasse, keine Rechtfertigung für ein Verbot des Tragens dieser Kopfbedeckung ersichtlich.

Auch wenn den beiden anhängigen Rechtssachen grundlegende Bedeutung zukommt, verweist Sharpston darauf, dass „in der großen Mehrheit der Fälle (…) im Rahmen eines vernünftigen Ge-sprächs zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Lösung zu finden" sei, die die widerstreitenden Rechte (…) miteinander angemessen in Einklang bringt."

Sei dies nicht möglich, müsse das unternehmerische Interesse an der Erzielung maximaler Gewin-ne hinter dem Recht des einzelnen Arbeitnehmers, seine religiösen Überzeugungen zu bekennen, zurücktreten. Denn dort, „wo die Haltung des Kunden selbst auf Vorurteile wegen eines der „verbotenen Faktoren", wie etwa der Religion, schließen lässt, dürfte (…) es besonders gefährlich sein, den Arbeitgeber von der Einhaltung einer Pflicht zur Gleichbehandlung zu entbinden, um diesem Vorurteil nachzugeben. Die Urteile in den dargestellten Rechtssachen werden für den Herbst erwartet.

Die Schlussanträge von Juliane Kokott finden Sie hier: http://ekd.be/2av2hAc

Die Schlussanträge von Elenora Sharpston in der Rechtssache C-188/15 finden Sie hier: http://ekd.be/2apumHo



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