EuGH: Keine Freiheitsstrafe bei illegaler Einreise

(Julia Maria Eichler)

Am 07. Juni 2016 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-47/15 entschieden, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen vor der Einleitung eines Rückkehrverfahrens nicht allein deshalb eine Freiheitsstrafe verhängt werden könne, weil er illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats über eine Binnengrenze des Schengen-Raums eingereist sei.

Dies verstoße gegen die EU-Rückführungsrichtlinie, die die Rückführung von illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige regelt. Die Richtlinie sieht vor, dass gegen jeden illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist. Grundsätzlich hat eine Rückkehrentscheidung eine Frist für eine freiwillige Rückkehr vorzusehen, an die sich gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen anschließen können. Erfolge keine freiwillige Ausreise, bestimme die Richtlinie, dass eine zwangsweise Abschiebung unter Einsatz von Maßnahmen durchzuführen sei, die so wenig Zwang wie möglich ausübten. Nur wenn die Abschiebung gefährdet sei, könne die betroffene Person in Abschiebehaft genommen werden.

In dem vorliegenden Fall ging es um die Bestimmungen im französischen Recht, die die irreguläre Einreise mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bestrafen. Zudem kann eine Person in Polizeigewahrsam genommen werden, wenn Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines einer mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens vorliegen.

Die ghanaische Antragsstellerin, Sélina Affum, wurde im März 2013 wegen illegaler Einreise nach Frankreich in Polizeigewahrsam genommen, nachdem sie an Bord eines Reisebusses von Gent nach London an der Einfahrt zum Ärmelkanal ohne für sie gültigen Ausweis oder Reiseunterlagen aufgegriffen worden war. Frankreich richtete daraufhin ein Rücküberstellungsgesuch an Belgien. Hierfür wurde nach Ende des Polizeigewahrsams eine fünftägige Verwaltungshaft zum Zwecke der Abschiebung angeordnet, die verlängert wurde. Der französische Cour de cassation legte dem EuGH die Rechtssache vor, nachdem Frau Affum geltend gemacht hatte, dass das Polizeigewahrsam rechtswidrig sei, wie auch die Verlängerung der Verwaltungshaft. Insbesondere war zu klären, ob Vorschriften, die die illegale Einreise, aber nicht den illegalen Aufenthalt, mit Freiheitsstrafe bedrohen, mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar sind.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass ein Drittstaatsangehöriger sich dann im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates illegal aufhalte und daher in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtli-nie falle, „wenn er sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in diesen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, als Fahrgast eines im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats fahrenden Busses auf der Fahrt von einem anderen zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaat in Rich-tung eines weiteren Mitgliedstaats, der nicht zum Schengen-Raum gehört, auf der Durchreise befindet". Der illegaler Aufenthalt setze keine Mindestdauer für die Anwesenheit in einem Mitgliedstaat voraus oder die Absicht in diesem Mitgliedstaat zu verbleiben.

Der Gerichtshof nimmt in seinem Urteil auf seine bisherige Rechtsprechung Bezug. In dem Urteil C-329/11 hatte er bereits entschieden, dass die Rückführungsrichtlinie einer nationalen Regelung entgegenstehe, die den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen mit einer Freiheitstrafe sanktioniere, wenn für diesen das Rückkehrverfahren noch nicht abgeschlossen sei, also insbesondere noch keine Zwangsmaßnahmen verhängt worden seien. Eine Inhaftierung sei dann möglich, wenn das Verfahren abgeschlossen sei und der Drittstaatsangehörige sich weiterhin ohne Recht-fertigungsgrund illegal im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates aufhalte. Auch die Verwaltungshaft zur Ermittlung der Tatsache, ob der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen irregulär sei oder nicht, sei mit der Richtlinie vereinbar ebenso wie die Ahnung andere Straftatbestände als solche, die nur eine illegale Einreise zum Gegenstand haben, mit einer Freiheitsstrafe.

Die Richtlinie sei auf diesen Fall auch anwendbar, weil die illegale Einreise einer der Umstände darstelle, der zu einem illegalen Aufenthalt führe. Ist ein Drittstaatsangehöriger somit illegal eingereist und wird deshalb als illegal aufhältig angesehen und sein Aufenthalt nicht legalisiert, sei auf diesen das in der Richtlinie vorgesehene Rückkehrverfahren im Hinblick auf seine Abschiebung anzuwenden.

Die in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Richtlinie, etwa beim illegalen Übertritt einer Außengrenze eines Mitgliedstaates, würden im vorliegenden Fall nicht greifen, da Frau Affum eine Binnengrenze des Schengen-Raums illegal überschritten habe bzw. beim Versuch, den Schengen-Raum zu verlassen aufgegriffen worden sei. Ebenso führe das eingeleitete Wiederaufnahmeverfahren nicht zur Unab-wendbarkeit der Richtlinie. Die Wiederaufnahme bewirke lediglich die Übertragung der Verpflichtung zur Anwendung des Rückkehrverfahrens auf den Mitgliedstaat, der den Drittstaatsangehörigen wieder aufzunehmen habe. Der Beschluss über die Rücküberstellung an einen anderen Mitgliedstaat stelle eine Maßnahme zur Beendigung des illegalen Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen dar und habe daher im Rahmen der von der Richtlinie geschaffenen Normen und Verfahren zu erfolgen. Eine Freiheitsstrafe würde aber die Einleitung dieses Verfahrens und damit die effektive Abschie-bung verzögern und somit die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen.

Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus Artikel 4 Absatz 3 des Schengener Grenzkodex, der von den Mitgliedstaaten verlangt, das unbefugte Überschreiten der Außengrenzen außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgesetzten Verkehrsstunden zu sanktionieren. Denn diese Pflicht lasse den Mitgliedstaaten die Wahl bezüglich der Ausgestaltung der Sanktionen, solange diese wirksam, verhältnismäßig und abschreckend seien. Es müsse somit keine Freiheitsstrafe verhängt werden. Die Sanktionspflicht aus dem Schengener Grenzkodex und die Verpflichtungen aus der Rückführungsrichtlinie seien beide zu erfüllen.

Zum anderen sei aber Art. 4 Abs. 3 in dem streitgegenständlichen Fall gerade nicht einschlägig, denn es liege ein unbefugtes Überschreiten der Außengrenze an der Grenzübergangsstelle während der festgesetzten Verkehrsstunden vor und ein unbefugtes Überschreiten der Binnengrenze. Hierfür sehe aber der Schengener Grenzkodex kei-ne Sanktionen vor.

Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Uni-on finden Sie hier: http://ekd.be/2as05Wt



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