Dublin IV – Was nicht passt, wird passend gemacht!?

(Julia Maria Eichler)

Am 05. Mai 2016 hat die Europäische Kommission den lang erwarteten Vorschlag zur Überarbeitung der Dublin III-Verordnung veröffentlicht. Ursprünglich war für das Frühjahr 2016 lediglich eine routinemäßige Überprüfung der Dublin III-Verordnung vorgesehen, bei der gegebenenfalls kleinere Nachbesserungen vorgenommen werden sollten. Nachdem durch den starken Anstieg der Anzahl ankommender Schutzsuchender im Jahr 2015 das Dublin-System de facto außer Kraft gesetzt war, entschloss sich die Europäische Kommission jedoch für einen Systemcheck für das gesamte Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Schon mit der im April 2016 veröffentlichen Mitteilung der Europäische Kommission zur „Reformierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und Erleichterung legaler Wege nach Europa" wurde offensichtlich, dass die Senkung der Anzahl ankommender Schutzsuchender, die Abschaffung vermeintlicher Pull-Faktoren, die Bekämpfung der Sekundärmigration und des Asylshoppings im Fokus der Reform stehen.

So hält der Vorschlag zur Überarbeitung der Dublin-Verordnung an dem umstrittenen Grundsatz der Dublin-III-Verordnung fest, wonach für das Asylgesuch derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in dem der Asylbewerber ankommt. Das Dublin-System soll aber um einen Korrektur-Mechanismus erweitert werden, der eine Umver-teilung von Asylbewerbern aus überlasteten Mitgliedstaaten vorsieht. Das Zuständigkeitskriterium der illegalen Einreise wird durch den Vorschlag gestärkt, indem die Möglichkeiten zur freiwilligen Übernahme der Verantwortung und der faktischen Übernahme durch Fristablauf durch andere Mitgliedstaaten zum Teil begrenzt bzw. abgeschafft werden.

Positiv in diesem Kontext hervorzuheben ist, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates, in dem sich bereits Familienangehörige des Antragsstellers aufhalten, erweitert wird: So sollen die bisher sehr enge Definition der Familie auf Geschwister erweitert werden und damit zu einem Übergang der Zuständigkeit für den Asylantrag auf einen anderen Staat führen. Außerdem sollen nicht mehr nur Familienbande genügen, die bereits im Herkunftsland bestanden, sondern auch solche, die in Transitländern, aber vor der Ankunft auf EU-Boden entstanden sind.

Laut Kommission zielt der Vorschlag vor allem darauf ab, wirksam und effektiv den zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen, eine fairere Verantwortungsteilung zwischen Mitgliedstaaten herbei-zuführen und Sekundärmigration zu verhindern.

Hierfür setzt der Vorschlag auf eine umfassende Nutzung der Konzepte des sicheren Drittstaates und des ersten Asylstaates. Diese sehen vor, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein Schutzsu-chender zuvor aus einem sicheren Drittstaat, also einem Staat in dem er gleichfalls Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten kann, oder aus einem Staat, in dem er diesen Schutz bereits erhalten hat (erster Asylstaat), eingereist ist.

Der Verordnungsentwurf sieht als Neuerung vor, dass noch vor der Feststellung der Zuständigkeit für das Asylverfahren der Mitgliedstaat, in dem sich der Schutzsuchende aufhält, prüft, ob der Asylantrag aus den oben genannten Gründen als unzulässig angesehen und der Schutzsuchende in den entsprechenden Drittstaat rückgeführt werden kann.

Für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten ist ein beschleunigtes Verfahren vorgesehen. Ein entsprechender Vorschlag für eine einheitliche und verbindliche, europäische Liste sicherer Her-kunftsstaaten liegt bereits seit September 2015 in Brüssel auf dem Tisch, bislang fehlt es aber an ei-ner Einigung der EU-Mitgliedstaaten.

Wie bereits im Rahmen des EU-Türkei-Deals sollen die verpflichtende Anwendung des Konzeptes des sicheren Drittstaates und des ersten Asylstaates die Bewertung eines Großteils der Asylanträge von Schutzsuchenden als unzulässig und damit eine Rückführung der Schutzsuchenden in Drittstaaten ermöglichen.

Ausdrücklich festgeschrieben wird, dass Schutzsuchende kein Recht haben, ihren Aufnahmestaat auszuwählen. Dem Free-Choice-Prinzip wird also eine klare Absage erteilt. Die Asylsuchenden werden unter Androhung von Sanktionen verpflichtet, sich in dem zuständigen Mitgliedstaat aufzuhalten. Personen, die trotz dieser Pflicht in einen anderen Mitgliedstaat weiterziehen, werden ohne Ausnahme in den zuständigen Mitgliedstaat zurückgebracht.

Bei Zuwiderhandeln sind verschiedene Sanktionen vorgesehen, unter anderem die Durchführung von beschleunigten Verfahren. Zudem haben Asylbewerber nur in dem zuständigen Asylaufnahmeland Anspruch auf materielle Leistungen. Die Interessen der Schutzsuchenden werden bei der Bestimmung des Aufnahmestaates in keiner Weise berücksichtigt.

Auch unbegleitete Minderjährige sollen im Regelfall zurück in den Mitgliedstaat verbracht werden, in dem der erste Asylantrag gestellt wurde. Obwohl Entgegen der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) von 2013 entschied, dass unbegleitete Minderjährige, die in mehr als einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, grundsätzlich nicht in einen an-deren Mitgliedstaat transferiert werden sollen, sondern derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, in dem sich der unbegleitete Minderjährige aufhält.

Mit dieser strengen Zuständigkeitsregelung wird weder den erheblichen Unterschieden zwischen Anerkennungsquote und Aufnahmebedingungen für Asylbewerber innerhalb der EU Rechnung getragen noch der Tatsache, dass Schutzsuchende zum Teil bereits Bindungen zu bestimmten Mitgliedstaaten haben, etwa durch weiter entfernte Familienangehörige, Sprachkenntnisse, frühere Aufenthalte oder Qualifikationen.

Erreicht die Anzahl der ankommenden Asylbewerbern in einem Mitgliedsland 150 % dessen, was dieser Mitgliedstaat nach einem Verteilungsschlüssel, der sich jeweils zu 50 % aus der Bevölke-rungsgröße und dem Bruttoinlandsprodukt ergibt, aufnehmen müsste, sollen nach dem Willen der EU-Kommission alle weiteren Schutzsuchenden automatisch auf andere Mitgliedstaaten umverteilt werden, bis das Asylbewerberaufkommen wieder unter diesen Schwellenwert gesunken ist. Hierfür soll ein automatisches System geschaffen werden, das in Echtzeit die Anzahl der in Europa gestellten Asylanträge, die aktuelle Anzahl von Asylanträgen in jedem Mitgliedstaaten, die Anzahl von neuangesiedelten Drittstaatsangehörigen und die aktuelle Anzahl von Asylanträgen, für die der jeweilige Mitgliedstaat zuständig ist sowie die Quote, die der einzelnen Mitgliedstaaten aufnehmen müsste, erfasst.

Durch die Berücksichtigung neuangesiedelter Drittstaatsangehöriger sollen Mitgliedstaaten für die freiwillige Neuansiedlung von Flüchtlingen honoriert werden. Die Umverteilung erfolgt jedoch erst nach Prüfung der Zulässigkeit des Asylantrages unter Anwendung der sicherer Drittstaats/erster Asylstaats-Kriterien. Nach der automatischen Umverteilung in einen anderen Mitgliedstaat würde dieser prüfen, ob wiederum ein anderer Mitgliedstaat aufgrund zu berücksichtigender familiärer Bindungen zuständig ist.

Die Mitgliedstaaten können bis zu 12 Monate ihre Teilnahme an der Umverteilung aussetzen, müss-ten aber nach dem Verordnungsentwurf pro Asylbewerber, den sie hätten aufnehmen müssen, eine sog. Solidaritätszahlung von 250.000 € an die aufnahmebereiten Staaten leisten.

Die rein schematische Verteilung innerhalb des Korrekturmechanismus verhindert, dass vorhandene Verbindungen, Fähigkeiten oder andere Präferenzen, die Flüchtlinge bereits mit einem Mitgliedstaat verbinden, berücksichtigt werden können. Nur die Familienzusammenführung wäre in diesem System gewährleistet. Insofern stellt der Kommissionsvorschlag einen Rückschritt dar, sahen doch die Vorschläge zur Notfallumverteilung aus dem letzten Jahr zum Teil die Möglichkeit zur Berücksichtigung von Qualifikationen und Präferenzen der Asylsuchenden vor.

Dass ein Asylsystem bereits vor der Erreichung des Schwellenwertes von 150% überlastet sein könnte, wird ebenfalls nicht berücksichtigt. Für die bis zur Umverteilung ankommenden Flüchtlinge gibt es keine Möglichkeit, aus dem überlasteten System herausgenommen zu werden. Denn die Regelungen, die im bisherigen System ein humanitäres Einschreitens eines Mitgliedstaates und die freiwillige Übernahme ermöglichten, würden nach dem Vorschlag der Kommission abschafft bzw. massiv eingeschränkt. Der Wegfall des Übergangs der Zuständigkeit durch Fristablauf dürfte auch für das Kirchenasyl nicht folgenlos bleiben, sollte der Entwurf unverändert fortbestehen.

Zudem wird der Vorschlag eines der dringendsten Probleme, die Überlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen, insbesondere Griechenlands, nicht lösen. Diese Staaten werden weiterhin für die Prüfung der Asylverfahren verantwortlich sein, auch wenn der Schwellenwert von 150 % zur Aktivierung des Umverteilungsmechanismus erreicht wird. Denn der Erstaufnahmestaat bleibt für die Prüfung der Zulässigkeit des Asylantrages auch bei vorgesehener Umverteilung zuständig. Der feh-lende Übergang der Zuständigkeit etwa durch Fristablauf führt zudem dazu, dass Schutzsuchende keinen Zugang zum Asylsystem in dem Staat erhalten, in dem sie sich aufhalten. Das Phänomen der „refugees in orbit" könnte erneut zu einer Massenerscheinung werden. Die Sanktionierung von Schutzsuchenden, die in einen anderen Mitgliedstaat weiterwanden, zeigt, dass das neue System mehr denn je auf Zwang und Abschreckung beruht.

Ein System, das aber konsequent gegen den Schutzsuchenden arbeitet, ist auch weiterhin zum Scheitern verurteilt.

Das EKD-Büro Brüssel hat gemeinsam mit anderen christlichen Organisationen, darunter Caritas und CCME, bereits Gespräche mit dem Europäischen Parlament aufgenommen, um auf die beson-ders kritischen Punkte hinzuweisen, und wird in den kommenden Wochen eine Stellungnahme ver-öffentlichen.

 

Den Vorschlag der Kommission zur Dublin-Verordnung finden Sie hier: http://ekd.be/2aKniY0



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