EU-Türkei-Deal – Weniger Schutzsuchende um jeden Preis?

(Julia Maria Eichler)

Hatte die Kommission seit Mai 2015 zunächst versucht, einer Überbelastung einzelner Mitgliedstaaten durch die Umverteilung von Asylbewerbern innerhalb der EU Herr zu werden, wurde spätestens im Frühjahr 2016 klar, dass die meisten EU-Mitgliedstaaten wenig Interesse hatten, Schutzsuchende aufzunehmen. Schließlich schlossen die Länder entlang der Balkanroute Anfang März 2016 ihre Grenzen, wenig später folgte die EU-Türkei-Erklärung am 18. März 2016. Der Deal mit der Türkei verdeutlicht den tiefen Graben zwischen den EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage und die Tendenz angesichts zunehmend fremdenfeindlicher Stimmung in vielen Ländern, die Verantwortung für Flüchtlinge Drittstaaten zu überlassen.

Im Jahr 2015 erreichten von der Türkei aus 876.777 Menschen die griechischen Inseln. Im Jahr 2016 kamen bis Anfang März allein 117.000 Schutzsuchende an. Im letzten Jahr hatte die Anzahl der Ankommenden erst im Juni 2015 die 100.000-Marke überschritten.

Die Staats- und Regierungschefs sahen sich daher zum Handeln gezwungen und einigten sich mit der Türkei auf einen gemeinsamen Ansatz zur Beendigung der illegalen Migration aus der Türkei in die EU.

Eigentlich sollte auf einem Sondertreffen der EU-Staats- und Regierungschefs und des damaligen türkischen Premierministers Ahmet Davutoglu am 7. März 2016 über die verbesserte Umsetzung des Gemeinsamen Aktionsplan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise vom November 2015 diskutiert werden (EKD-Europa-Informationen Nr. 150). Stattdessen legte der türkische Premierminister jedoch einen eigenen Vorschlag vor, der wohl in enger Absprache mit der deutschen Bundeskanzlerin entstanden war.

Die Logik hinter der EU-Türkei-Erklärung ist einfach: Wenn sich 28 Mitgliedstaaten mit insgesamt 500 Millionen Bürgern nicht auf die gerechte Verteilung der Verantwortung für rund 1,2 Millionen Asylbewerber im Jahr 2015 einigen können, dann sollten 2016 besser nicht erneut so viele Schutzsu-chende ankommen.

Das vereinbarte Vorgehen sieht vor, dass jeder aus der Türkei auf den griechischen Inseln irregulär ankommende Migrant, der entweder keinen Asylantrag stellt oder dessen Antrag auf Asyl für unbegründet oder unzulässig erklärt worden ist, in die Türkei zurückgebracht wird. Im Gegenzug soll für jeden in die Türkei zurückgebrachten Syrer ein Syrer aus der Türkei auf legalem Weg in der EU neuangesiedelt werden. Dabei sollen Syrer bevorzugt werden, die vorher nicht versucht haben, irregulär in die EU einzureisen.

Die Mitgliedstaaten haben sich grundsätzlich zur Aufnahme von bis zu 72.000 Syrern auf diesen Weg bereit erklärt. Von Seiten der EU sollen für diese Maßnahme zunächst die noch nicht ausgeschöpften 18.000 Plätze für Neuansiedlungen aus der Türkei genutzt werden (EKD-Europa-Informationen Nr. 149). Die EU-Mitgliedstaaten sowie die assoziierten Länder hatten sich 2015 zur Neuansiedelung von rund 22.000 Schutzsuchenden von außerhalb der EU verpflichtet. Bei weiterem Bedarf sollen die 54.000 Plätze „aufgefüllt" werden, die ursprünglich zur Umsiedlung von Flüchtlingen aus Ungarn innerhalb der EU gedacht waren. Wird diese Zahl überschritten, ist die Abmachung hinfällig.

Diese „vorübergehende und außerordentliche Maßnahme soll das menschliche Leid stoppen und die öffentliche Ordnung wieder herstellen", heißt es in der EU-Türkei-Vereinbarung. Schutzsuchende, die auf den griechischen Inseln ankommen, sollen registriert werden und einen Asylantrag stellen können, der gemäß den europarechtlichen Vorgaben behandelt werden soll. „Alle Migranten werden nach den einschlägigen internationalen Standards und in Bezug auf den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung geschützt", so das EU-Türkei-Erklärung. So sollen Schutzbedürftige davon abgehalten werden, irregulär in die EU einzureisen.

Die EU-Türkei-Vereinbarung sieht darüber hinaus vor, dass der Rahmen für die freiwillige Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus humanitären Gründen aktiviert werden soll, allerdings unter der Voraus-setzung, dass die Ankunftszahlen in der EU erheblich sinken.

Daneben sollte die Türkei alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um das Entstehen von neuen Meer- oder Landrouten für irreguläre Migration zu verhindern. Die Umsetzung des Fahrplans für die Visa-Liberalisierung solle beschleunigt werden und anstatt im Oktober sollte ursprünglich bis spätestens Juni 2016 das Visa-Erfordernis aufgehoben werden.

Die EU versprach außerdem, die Verteilung der drei Milliarden für Projekte zugunsten von Flücht-lingen in der Türkei, die bereits im November 2015 vereinbart worden waren, zu beschleunigen. Wenn diese Mittel aufgebraucht sind und die anderen Verpflichtungen erfüllt, beabsichtigt die EU zusätzliche Mittel von bis zu drei Milliarden bis Ende 2018 mobilisieren. Man einigte man sich auch auf die Eröffnung des Beitrittskapitels 33 „Finanz- und Haushaltbestimmungen".

Die EU-Türkei-Erklärung baut darauf auf, dass der Großteil der ankommenden Schutzsuchenden trotz Asylantrags wieder in die Türkei zurück gebracht werden kann. Das europäische Asylrecht sieht verschiedene Möglichkeiten vor, wann ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt und der Betroffene somit wieder in das Herkunfts- oder Transitland zurückgebracht werden kann. Die Möglichkeit ist z.B. gegeben, wenn sich der Schutzschende zuvor in einem sichereren Drittstaat aufgehalten hat. Das Konzept des sicheren Drittstaats sieht vor, dass einem Asylsuchenden Schutz in der EU verwehrt werden kann, wenn ihm bereits in einem anderen Staat Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention hätte gewährt werden können. Die Anforderungen an die Einstufung eines Staates als sicherer Drittstaat sind dementsprechend hoch: Dem Schutzsuchenden darf dort u.a. keine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung drohen, der Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) muss eingehalten werden und es muss die Möglichkeit bestehen, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der GFK zu stellen sowie im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gemäß der GFK zu erhalten.

Schon vor dem missglückten Staatsstreich in der Türkei und der Verhängung des Ausnahmezustandes mitsamt der Aussetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention gab es aber erhebliche Zweifel, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat in dem oben genannten Sinne ist. Denn die Türkei hat bezüglich der GFK einen geografischen Vorbehalt erklärt. Zwar können nichteuropäische Schutzsuchende einen sogenannten „bedingten Flüchtlingsstatus" bekommen, dieser ist jedoch mit einem Schutz nach der GFK nicht gleichzusetzen. Auch gibt es immer wieder Berichte über Rück-schiebungen von Schutzsuchenden in ihre Herkunftsländer. So haben Amnesty International und Human Rights Watch bereits im Dezember 2015 Verletzungen des Nichtzurückweisungsgebotes dokumentiert, als die Türkei syrische und irakische Schutzsuchende in ihre Heimatländer abgeschoben hat, obwohl ihnen dort Gefahr für Leib und Leben drohte.

Auch die griechischen Behörden und Gerichte sehen den Status der Türkei als sicheren Drittstaat nicht automatisch als gegeben an. So gab es Anfang Juni 2016 erste griechische Gerichtsentscheidungen, die eine Abschiebung aufgrund des nicht vorliegenden Status der Türkei als sicherer Drittstaat ablehnten.

Gleichzeitig wurde mit dem Deal der Druck auf Griechenland erheblich erhört, denn die Vereinba-rung fußt darauf, dass Griechenland in den Hotspots faire und effektive Schnellverfahren für die neuankommenden Schutzsuchenden durchführt. Die Umsiedlungen in andere EU-Staaten, die Griechenland eigentlich entlasten sollten, schreiten zudem weiterhin viel zu langsam voran und das, obwohl es laut Kommission Anfang Juni 2016 rund 49.000 Schutzsuchenden in den offiziellen Aufnahmezentren Griechenlands gab.

Auch der Mechanismus, der für jeden zurückgeführten Syrer die Neuansiedlung eines Syrers aus der Türkei in der EU vorsieht, ist umstritten, weil zynisch. Nur wenn es Menschen gelungen ist, aus der Türkei die Grenze nach Griechenland irregulär zu überschreiten, kann es zu einer legalen Aufnahme eines Flüchtlings aus der Türkei und somit zu einer Entlastung des dortigen Aufnahmesystems kommen. Gleichzeitig soll der Deal aber die irreguläre Einreise aus der Türkei unterbinden und Anreize nehmen.

Ursprünglich sollten von den rund 22.000 Neuansiedlungsplätzen nicht nur die Türkei profitieren, sondern auch Länder wie Jordanien und der Libanon, die nun allein gelassen werden. Die 54.000 Plätze, die ursprünglich zur Umsiedlung von Flüchtlingen aus überlasteten EU-Mitgliedstaaten innerhalb der EU vorgesehen waren, stellen nun Neuansiedlung von außerhalb der EU und Umsiedlung innerhalb der EU in ein Konkurrenzverhältnis.

Darüber hinaus wird dadurch, dass nur syrische Schutzsuchende aus der Türkei aufgenommen werden sollen, eine immer stärker werdende Kluft zwischen syrischen Flüchtlingen und anderen Flüchtlingen und Schutzberechtigten quasi als Schutzsuchende zweiter Klasse aufgebaut. Nicht nur Syrer sind aber schutzbedürftig, auch Iraker und Eritreer sind Verfolgungen in ihren Herkunftsländern ausgesetzt. Das gilt auch für Menschen aus Afghanistan, dem Kongo, Somalia und vielen anderen Herkunftsländern. Die Schutzbe-dürftigkeit eines Menschen kann nicht nur an seiner Nationalität festgemacht werden - das Recht auf Asyl ist ein Individualrecht. Das Asylbegehren muss im Einzelfall überprüft werden.

Das Versprechen, künftig syrische Flüchtlinge aus humanitären Gründen aufzunehmen, wenn sich die Anzahl irregulär einreisender Schutzsuchender reduziert hat, bleibt rein freiwilliger Natur –vage und unverbindlich.

Wie lang die Vereinbarung bestehen bleibt, wird immer fraglicher. Nicht nur der Streit um die Visa-Liberalisierung gefährdet den vermeintlichen Erfolg der neuen Kooperation, sondern auch die vom türkischen Präsidenten angeheizte Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe und der damit drohende Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen.

Seit Inkrafttreten der Vereinbarung am 20. März 2016 wurden 468 Personen von den griechischen Inseln zurück in die Türkei geschickt. Im ganzen Jahr 2016 waren es 1.552. 711 Syrer wurden aus der Türkei in der EU neuangesiedelt.

Viel wichtiger aber als diese Zahlen sind die Signale, die die EU an die Schutzsuchende in aller Welt mit dem Türkei-Deal sendet: Die EU ist bereit ihre Verantwortung für Schutzsuchende zunehmend zu externalisieren und mit der verpflichtenden Anwendung der Konzepte der sicheren Drittstaaten für Schutzsuchende kaum zu überwindende Hürden aufzustellen. Wer es dennoch aus der Türkei nach Griechenland schafft, der dürfte in dem nicht funktionierenden Asylsystem Griechenlands, in dem Asylanträge nur per Skype gestellt werden können, hängen bleiben.

Diese Signale kann man beziffern. Bis Juli 2016 kamen in Griechenland, laut UNHCR, 158.722 Personen in Griechenland an, wobei die Zahlen seit März 2016 deutlich gefallen sind. Zählte der UNHCR im Januar 2016 noch über 67.000 Ankünfte in Griechenland, waren es im Mai noch knapp über 1.700 und im Juni 1.554. Im Vergleich: Im Juni 2015 waren 31.318 Menschen angekommen.

 

Die EU-Türkei-Erklärung finden Sie hier: http://ekd.be/2ay55Kz



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