Scheiden tut weh - Der Brexit und seine Folgen

(OKR‘in Katrin Hatzinger)

Am Morgen nach dem britischen Referendum wurde mir, der Kollegin aus Brüssel, in Berlin zum Ausgang der Abstimmung kondoliert. Das hat mich stutzig gemacht. Sagt die freundlich gemeinte Geste doch mehr über den Graben zwischen Bürger und EU aus als viele Worte. Ja, der 23. Juni 2016 war ein schwarzer Tag für Europa, aber Europa, das sind wir alle. Der Sieg des Brexit-Lagers war eben nicht nur eine Schlappe für die Bürokraten in Brüssel, sondern für alle, die an ein geeintes, friedliches und solidarisches Europa glauben und ihre Zukunft in dieser Gemeinschaft sehen. Die Auswirkungen werden wir auch in Deutschland spüren.

Großbritannien hat am 23. Juni 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Erstmals in der Geschichte der EU wird damit ein großer und wirtschaftlich bedeutender Mitgliedstaat die Gemeinschaft verlassen. Das Referendum hat in Großbritannien ein politisches Erdbeben ausgelöst und die Krise der EU weiter verschärft. Das Ergebnis erscheint mir aus verschiedenen Gründen bedenklich:

Zunächst zeigt sich nach den EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 erneut, dass Volksabstimmungen über EU-Themen, die letztlich aus rein innenpolitischen Erwägungen angesetzt werden, auch aus innenpolitischen Gründen entschieden werden. Dabei lässt sich die EU offensichtlich weiterhin prima als Sündenbock für (vermeintliche) nationale Missstände missbrauchen. Es ist erschreckend, auf welchen fruchtbaren Boden die schrillen Töne und falschen Versprechungen des Brexit-Lagers bei den Wählerinnen und Wählern gefallen sind. Schließlich macht das Referendum auch die Ratlosigkeit der übrigen EU-Staaten sichtbar, eine gemeinsame Antwort auf den Austritt zu geben, und stellt auch die Kirchen in Europa vor eine große Herausforderung.

Ein kurzer Blick zurück: Ex-Premier David Cameron hatte die Volksabstimmung ohne Not angesetzt, um die Europakritiker in den eigenen Reihen zu besänftigen, doch sein Plan ist grandios gescheitert. Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson hatte sich entgegen seiner persönlichen Überzeugung auf die Seite der Brexit-Befürworter geschlagen, da er die Chance witterte, sich als möglicher Nachfolger seines Dauerkonkurrenten Cameron zu profilieren. Im Wahlkampf musste die EU als Sündenbock für das schwächelnde Gesundheitssystem in Großbritannien, für die zunehmende soziale Ungerechtigkeit im Land, die Überfischung der Nordsee und den angeblich massenhaften Zuzug von Einwanderern herhalten. Mit Lügen und falschen Versprechungen wurden vor allem diejenigen Wähler mobilisiert, die sich als Verlierer der aktuellen britischen Politik fühlen. Ironie der Geschichte: der Austritt aus der EU wird gerade sie besonders hart treffen. Die Jungen hingegen waren zwar mehrheitlich für den Verbleib, blieben aber größtenteils den Wahlurnen fern. Die anglikanische Kirche schließlich hat sich in dem Wahlkampf sehr zurückgehalten, um die gesellschaftliche Spaltung nicht weiter zu vertiefen, auch wenn der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, sich zuletzt in einem sehr ausgewogenen Beitrag für den Verbleib in der EU ausgesprochen hatte.

Nach der ersten Euphorie im Brexitlager macht sich peu à peu auch dort Katerstimmung breit. Das Pfund verliert rasant an Wert und Großbritannien versinkt in einem nicht gekannten politischen Chaos: David Cameron ist vom Amt des Premierministers zurückgetreten, die EU-Befürworterin Theresa May darf nun die Suppe auslöffeln und ihr Land aus der EU führen. Das politische enfant terrible Boris Johnson war nicht in der Lage, eine echte Vision eines unabhängigen Großbritanniens aufzuzeigen, wurde von einem parteiinternen Konkurrenten aus dem Rennen um den Premierministerposten verdrängt und muss nun als Außenminister politisches Stehvermögen beweisen. Nigel Farage, der Chefpopulist der United Independent Party (UKIP), hat zwar mit harten Bandagen für die Unabhängigkeit seines Landes gekämpft, überlässt es jetzt, wo es ernst wird, aber lieber Anderen, den Schritt zu vollziehen und zieht sich von Vorsitz der UKIP zurück. Auch die Labour-Partei zerfleischt sich genüsslich selbst. Die Schotten hingegen träumen von einem neuen Unabhängigkeitsreferendum und wünschen sich, wie viele Nordiren, eine Zukunft in der EU. Das Vereinigte Königreich ist ernsthaft vom Zerfall bedroht und die Gesellschaft gespalten. Einen Weg zurück in die EU aber wird es nicht geben.

Wenn man dem Brexit-Votum etwas Positives abgewinnen möchte, dann vielleicht die bittere Lektion, dass Scheiden weh tut. Während die politischen Brandstifter sich ins Privatleben zurückziehen, werden die Wählerinnen und Wähler durch die Abwertung des britischen Pfunds, den Abbau von Arbeitsplätzen und den Rückgang von Investitionen die Folgen des Austritts zu spüren bekommen.

Doch was bedeutet das Votum für den Rest der EU? Die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten bemühen sich um Geschlossenheit und haben das Abstimmungsergebnis auf dem Gipfel am 28. Juni 2016 in Brüssel bedauert. Doch scheinen sie selbst noch nicht so recht zu wissen, wie die Zukunft aussehen soll. Eine Phase der Reflexion wurde ausgerufen. Dabei ist jetzt echte politische Führung gefragt. Europa braucht konstruktive Energie. Doch die Stimmen, auch die aus Deutschland, geben aktuell kein geschlossenes Bild ab. Die einen fordern mehr, die anderen ein besseres Europa, auch die Idee vom Europa der zwei Geschwindigkeiten macht wieder die Runde. Richtig ist, dass nur die Briten selbst den Austritt vollziehen können. Richtig ist auch, dass die übrigen EU- Staaten konsequent bleiben und den Briten keine Zugeständnisse machen dürfen, um Nachahmungseffekte zu verhindern.

Das britische Referendum sollte aber auch als Weckruf für die Politik verstanden werden, dass die EU den Bürgerinnen und Bürgern wieder plausibel gemacht werden muss, damit sie gegenüber den populistischen Zerrbildern der EU immunisiert werden. Dafür ist eine Reflexionsphase zu wenig, Europa braucht vielmehr neuen Schwung und Zuversicht. Denn in Frankreich, den Niederlanden und Österreich fühlen sich Le Pen und Co. durch das Votum bestärkt, ihren Anti-EU-Kurs fortzusetzen und die Gemeinschaft zu sprengen. Für die Kirchen in Europa bedeutet das Brexit-Votum, sich noch mehr ihrer Verantwortung für den europäischen Zusammenhalt bewusst zu sein. Jenseits des üblichen Pathos und der Beschwörung des Friedensprojekts Europa heißt das vor allem mehr Auseinandersetzung mit europäischen Themen, mehr Debatten mit jungen Menschen und mehr Begegnung und Austausch mit den Partnerkirchen. Denn die Gräben, die sich in der Frage nach der Zukunft des Euro, Deutschlands Rolle in der EU oder der Flüchtlingsfrage zwischen den Staaten auftun, finden sich auch in und zwischen den europäischen Kirchen wieder. Schließlich sollten die Kirchen auch eine ökumenische Verantwortung für die Qualität des demokratischen Diskurses in einer Gesellschaft übernehmen, sich klar gegen die Verrohung und Verächtlichmachung des Anderen aussprechen und dazu beitragen, Vertrauen in die (Europa-)politik zu erhalten, damit die Fliehkräfte in Europa nicht weiter wüten und die Gemeinschaft zerstören können.



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