"Politik aus dem Netz und von der Straße - Bewegung für eine demokratische und friedlichere Welt?" - Podiumsdiskussion und Vorstellung des Friedensgutachtens 2012

(Maike Bannick / Katrin Hatzinger)

Das EKD-Büro hat am 20. Juni 2012 bereits zum dritten Mal das jeweils aktuelle Friedensgutachten im Rahmen einer Podiumsdiskussion vorgestellt. In diesem Jahr war der Aufsatz des Geschäftsführers des Netzwerks Friedenskooperative, Manfred Stenner, "Politik aus dem Netz und von der Straße - Bewegung für eine demokratische und friedlichere Welt?", Gegenstand der Debatte. Nach einem Impuls des Europaparlamentariers Gerald Häfner (Die Grünen) diskutierten - moderiert von der Leiterin des EKD-Büros, Katrin Hatzinger - Mitherausgeberin Dr. Corinna Hauswedell vom Bonn International Centre for Conversion (bicc), Manfred Stenner, der Europaabgeordnete Michael Gahler (CDU) sowie Roland Freudenstein, Forschungsleiter am Centre for European Studies. Dabei standen folgende Fragen im Mittelpunkt: Welches Potential zur positiven Veränderung der Weltgesellschaft steckt in den Protestbewegungen? Hat die Einforderung von Partizipation und sozialer Gerechtigkeit auch friedenspolitische Implikationen? Wie verändern die unterschiedlichen Bewegungen von Occupy bis Arabellion unser Demokratieverständnis?

Im einleitenden Impulsvortrag thematisierte Gerald Häfner  das schwindende Vertrauen der Bürger in die Politik. Die momentanen krisenhaften Zeiten bestimmten das Lebensgefühl. Niemand könne genau sagen, welche Entwicklungen auf die Staaten zukommen werden. Das Vertrauen der Bürger in die Politik erodiere, da Prophezeiungen gemacht würden, die im Endeffekt nicht einträten.

Eine Typologie der unterschiedlichen Protestbewegungen zu erstellen sei schwierig. Es handle sich um verschiedene Phänomene. Während es sich in der Arabellion um eine Protestbewegung klassischen Zuschnitts handele mit einem klaren Ziel und einem klaren Gegner, fehle es der Occupy-Bewegung an einem greifbaren Gegenspieler: Occupy habe keinen konkreten Angriffspunkt. Ihr liege ein umfassendes Unwohlsein mit den heutigen politischen Verhältnissen zugrunde. Dazu gehöre zum einen die Demokratiefrage, da zwischen den Wahlen keine konkrete Möglichkeit bestehe mitzureden. Er plädierte daher dafür, das System der Demokratie zu überarbeiten, um den Bürgern mehr Partizipation zu gewähren. Nicht nur die fehlenden Mitsprachemöglichkeiten, auch ein entfesselter Finanzkapitalismus zerstöre die sozialen Verhältnisse und die Umwelt. Häfner sprach von einem "Krieg" auf den Finanzmärkten. Die Politik müsse die Verantwortung für die derzeitigen Entwicklungen übernehmen und nach Alternativen suchen. Die Aufgabe Europas sei es in diesem Kontext, Ideen für eine nachhaltige und soziale Ökonomie zu entwickeln. Denn die Frage nach dem Frieden schließe die Frage des sozialen Friedens und des Friedens mit der Natur ein: Nur eine ganzheitliche Bearbeitung könne zielführend sein.

Nach Dr. Corinna Hauswedell kann die Occupy-Bewegung in zwei Phasen unterteilt werden: Am Anfang habe sich die Bewegung selbst artikuliert und sei stellvertretend für 99 Prozent der Bevölkerung aktiv geworden. Die Bewegung habe eine symbolische Bedeutung und öffentliche Wirkung erzielt. Im Verlauf der Zeit sei es dann zu einer zweiten Phase gekommen, in der Zweifel an der Reichweite der Proteste laut wurden.

Roland Freudenstein betonte die Notwendigkeit neuer Demokratieformen, die mehr Mitsprache der Bürger ermöglichten. Gleichzeitig warnte er davor, die bürgerliche Demokratie im Zuge der Protestbewegungen vorschnell gegen etwas Schlechteres einzutauschen.

Manfred Stenner sprach über die sozialen Medien als Instrumente demokratischer Partizipation, sie seien ein verbindendes Element zwischen den Bewegungen. Insbesondere die Occupy-Bewegung sei ein Aufschrei gegen die aktuelle Politik, die ursächlich für die jetzigen Probleme sei. Man müsse die Deregulierung der Finanzpolitik zurückschrauben und Spekulationen begrenzen. Er sprach von einer Politik(-er-)verdrossenheit, die unter den Bürgern zu spüren sei und sich seit der Finanzkrise noch einmal verschärft habe, was an den geringen Wahlbeteiligungen und dem Ruf nach einer stärkeren Mitbestimmung deutlich werde. Die EU brauche mehr direkte Demokratie und vermehrte Volksentscheide auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene.

Michael Gahler, sicherheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion, versuchte dem Ursprung der angesprochenen Politikverdrossenheit auf den Grund zu gehen: Sie sei größtenteils in dem Moment entstanden, als die Politik das Wachstumsversprechen nicht mehr halten konnte. Mittlerweile sei zunehmend Konkurrenz durch andere Staaten entstanden, die mit der EU gleichzögen. Der Abgeordnete des Europäischen Parlaments betonte, dass die Politik in der Verantwortung stehe, zu erklären, warum es nicht in dem gleichen Tempo immer weiter gehen könne. An dieser Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern fehle es der Politik, so dass Vertrauen schwinde.          
In Bezug auf die aktuelle Lage in Tunesien erläutert Gahler, der 2011 die EU-Wahlbeobachtungsmission in Tunesien geleitet hatte, dass dort momentan die wirtschaftlichen, religiösen und politischen Fragen geklärt werden müssten. Die EU habe eine große Verantwortung, ein Land wie Tunesien zu stabilisieren. Bezugnehmend darauf machte Roland Freudenstein auf einen langjährigen Fehler der EU aufmerksam: Europa habe lediglich mit den alten Eliten zusammengearbeitet, ohne den Blick auf die Oppositionen zu richten. Der Kontakt zur Zivilgesellschaft müsse intensiviert werden. Durch eine bessere Visapolitik müsse eine Wissenspolitik basierend auf internationalem Austausch entwickelt werden, um die Länder wirtschaftlich voranzubringen.

Abschließend stellte Katrin Hatzinger fest, dass die Themenstellung viele interessante Fragen aufgeworfen habe, sie sich jedoch im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit nicht abschließend diskutieren ließen. Ein erster anregender Schritt sei jedoch getan worden.

Weitere Informationen zum Friedensgutachten finden Sie hier:



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