Die inneren Grenzen Europas – Die Debatte um die europäische Personenfreizügigkeit

(Christoph Schnabel)

Im April 2013 forderten die Innenminister aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und Österreich in einem Brief an die irische Ratspräsidentschaft, Sozialleistungsbetrug in der Europäischen Union effektiver zu bekämpfen. Es seien Ausweisungen und Wiedereinreiseverbote gegen EU-Bürger zu verhängen, die sich „betrügerischen Zugang zu den Sozialsystemen eines anderen Mitgliedstaates verschaffen“. Die Minister sprachen sich deshalb für eine „gemeinsame Interpretation“ der EU-Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG) aus, um systematischem Missbrauch entgegenwirken zu können. Missbrauchstatbestände und mögliche Sanktionen sollten von der Kommission ausgearbeitet werden. Dabei wurde besonders Einwanderern aus Rumänien und Bulgarien ein Missbrauch von Sozialleistungen vorgeworfen. Auslöser für den Brief war u. a. die Diskussion in Deutschland über Armutseinwanderung, insbesondere der Roma (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 142).

In ihrem Antwortschreiben an die Innenminister forderten Justizkommissarin Viviane Reding, Arbeitskommissar László Andor und Innenkommissarin Cecilia Malmström die Mitgliedstaaten auf, „statistische Beweise“ für das von ihnen beklagte Problem vorzulegen. Bisher sei es nur in „allgemeinen Wendungen“ beschrieben worden. Die Kommission hatte schon in ersten mündlichen Reaktionen Zweifel daran erkennen lassen, dass es Armutseinwanderung überhaupt in signifikantem Ausmaß in der Europäischen Union gebe. Die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien gilt in Deutschland erst ab dem 1. Januar 2014. Die Kommission verwies außerdem auf geltendes EU-Recht, das die Möglichkeit zulasse, Personen, bei denen der Tatbestand eines Betrugs erwiesen ist, zu „sanktionieren“. Nur müsse dies aufgrund einer Entscheidung im Einzelfall geschehen und dürfe nicht pauschal ganze Personengruppen treffen.

Das Anliegen der vier Innenminister wurde auch bei dem Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg am 6. und 7. Juni 2013 diskutiert. Dabei wurde die Kommission von den EU-Innenministern aufgefordert, in einem Bericht zu klären, ob und unter welchen Bedingungen Armutsmigranten ausgewiesen und mit einer temporären Wiedereinreisesperre belegt werden dürfen. Dazu soll dem Rat für Justiz und Inneres im Oktober 2013 ein Zwischenbericht und im Dezember 2013 ein Abschlussbericht vorgelegt werden. Tatsächlich stellen die hohen Integrationskosten für Roma-Familien für Wohnung, Bildung und Gesundheitsvorsorge ein Problem dar, das die betroffenen Kommunen vor große Herausforderungen stellt, wie im Januar 2013 von dem Deutschen Städtetag öffentlich beklagt worden war. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe wurde eingerichtet, um Rumänien und Bulgarien bei der Aktivierung von Mitteln des Europäischen Sozialfonds zu unterstützen und Integration vor Ort zu fördern. Die im Jahr 2011 verabschiedete Roma-Strategie (EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020) zeigt zudem, dass die Europäische Kommission die Thematik längst erkannt hat und Impulse setzt, um Diskriminierung und Ausgrenzung abzuwehren und Perspektiven vor Ort zu schaffen. Oftmals mangelt es in der Praxis am Umsetzungswillen der Mitgliedsstaaten und die Strategie ist wenig bekannt.

Die Spannungen um die Personenfreizügigkeit in der Europäischen Union zeigen sich auch am Beispiel der aktuellen Änderung der Schengen-Gesetzgebung, die allerdings nicht mit der Debatte um die Roma im Zusammenhang steht, jedoch in der öffentlichen Diskussion häufig vermischt wird.

Am 12. Juni 2013 stimmte das Europäische Parlament einer Verordnung zur Änderung des Schengener Grenzkodex (EG Nr. 562/2006) zu. Der Schengener Grenzkodex („Schengen Border Code“, SBC) regelt die Personenkontrollen an den Außengrenzen sowie den europäischen Binnengrenzen und ist die zentrale Grundlage für die Freizügigkeit in der Europäischen Union.

Der Schengener Grenzkodex ermöglicht unter anderem die Wiedereinführung vorübergehender Kontrollen an den Binnengrenzen, sofern es sich um Ausnahmefälle handelt, bei denen eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit besteht. Im Jahr 2012 wurden diese temporären Kontrollen z.B. anlässlich der Fußball-Europameisterschaft an den jeweiligen Landesgrenzen durchgeführt. Mit den aktuellen Änderungen des Schengener Grenzkodex werden die Möglichkeiten für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ausgeweitet und Mitgliedsländern wird die Kompetenz eingeräumt, bei außergewöhnlichen Umständen an den innereuropäischen Grenzen temporär Kontrollen durchzuführen. Zu den außergewöhnlichen Umständen gehört insbesondere „das Überschreiten der Außengrenzen durch eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen“. So dürfen die Mitgliedstaaten künftig an den innereuropäischen Grenzen Kontrollen durchführen, wenn sie z.B. die Ankunft von zahlreichen Flüchtlingen befürchten. Um einen möglichen Missbrauch dieser Kompetenzen zu verhindern, wurde ein Evaluationsmechanismus für die Überprüfung der Umsetzungspraxis als begleitendes Instrument eingeführt. Die Gesetzesverordnung wird voraussichtlich im Herbst 2013 vom Rat der Europäischen Union förmlich angenommen werden. 
Auslöser für die Änderungen des Schengener Grenzkodex waren der Arabische Frühling 2011, als eine Vielzahl von Flüchtlingen aus Nordafrika nach Italien und in andere EU-Länder weiter reiste, sowie die Probleme Griechenlands bei der Sicherung seiner Grenze zur Türkei.

Kritik an den Änderungen übten einige Mitglieder des Europäischen Parlaments (u.a. Nadja Hirsch, FDP und Ska Keller, Grüne). Die Stärkung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten könnte zu einer Renationalisierung von Grenzkontrollen führen und die maßgeblichen Errungenschaften der Europäischen Union in der Personenfreizügigkeit gefährden. „Offene Grenzen“ sind ein grundlegender Wert der Europäischen Union, wie auch im Wort der EKD zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts im Oktober 2012 dargelegt wurde. Die Evaluation der Umsetzungspraxis ist folglich genau zu verfolgen.

Den Standpunkt des Europäischen Parlaments zum Schengener Grenzkodex finden Sie unter:



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