Leitartikel: "Beredte Loyalität" - Warum Europa mehr Fürsprache braucht

OKRin Katrin Hatzinger & Pfr. Patrick Roger Schnabel

 

Von allen Seiten wird derzeit die Währungsunion, ja, die Union an sich hinterfragt. Ungarn hat eine Regierung gewählt, die mit nationalistischen Parolen punktet, und setzt zunehmend demokratische Spielregeln außer Kraft. Dänemark kontrolliert seine Grenzen. Überall in der EU werden Stimmen laut, die sagen, Europa könne man sich unter den gegenwärtigen Bedingungen so nicht mehr leisten. Sogar in Deutschland ist Europapolitik inzwischen umstritten: Nicht zuletzt aufgrund des Drucks durch bestimmte Medien und durch Umfragewerte. Die Bereitschaft zu (bedingungsloser) Solidarität besteht nicht mehr.

 

Und natürlich muss sich die Mitgliedschaft in der EU rechnen. Doch ihr Wert bemisst sich an mehr als an den reinen Kosten. So ist es doch auch bei uns daheim: Vieles wäre günstiger und effizienter in einem Zentralstaat, doch wir lassen uns unseren Föderalismus etwas kosten, weil er uns mehr wert ist als das Geld, das wir investieren müssen. Die Details des Länderfinanzausgleichs werden zwar gelegentlich in Frage gestellt, aber deswegen wird die Bundesrepublik noch lange nicht als Transferbund diskreditiert und werden Ressentiments gegenüber den ärmeren Ländern geschürt.

 

An der ganzen Debatte über Europa, die durch die Finanz- und Eurokrise ja nur polemischer geworden ist, die aber schon lange untergründig schwelt, vermissen wir diese grundlegende Bejahung der Zusammengehörigkeit.

 

Es ist daher an der Zeit, sich auch von kirchlicher Seite deutlicher in den Diskurs einzuschalten. Deswegen haben wir uns sehr gefreut, dass der Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider, seine „Brüsseler Rede“ anlässlich des Ratsbesuchs bei den EU-Institutionen unter den Titel „Beredte Loyalität für Europa“ gestellt hat. Wir greifen diesen Titel gern auf, wenn wir hier auf die aktuellen Krisen und vor allem die Vertrauenskrise der europäischen Integration selbst eingehen.

 

 

Wir reden zu wenig über Europa.

 

Die Rede von der Alternativlosigkeit Europas hat Europa geschadet. Zu schnell werden damit alternative Vorschläge zu konkreter Politik – etwa dazu, was Griechenland mehr hilft: Rettungsschirm oder Umschuldung – weggewischt. Wer Alternativen anbietet, stellt damit nicht gleich Europa in Frage. Im Gegenteil: Viele sind bemüht, Auswege aus der Krise Europas zu finden. Wer kritische Nachfragen unterbindet, lockt die hervor, die das ganze Projekt ablehnen. Und diese radikalen Kräfte müssen sich fragen lassen, was denn ihre Alternativen wären? In einer globalisierten Welt entstehen automatisch Abhängigkeiten, ist Autarkie nicht mehr möglich. Besser ist, man steuert diese Prozesse und gewährleistet demokratische Regeln, als sich dem Trugschluss hinzugeben, der Weg zurück in die „splendid isolation“ sei der allein seligmachende.

 

Europa hat es schwer: Bei 27 Mitgliedstaaten – bald wird Kroatien die Nr. 28 sein – werden von Polemikern gern die Erfahrungen vergangener Riesenreiche bemüht, die an ihrer schieren Größe gescheitert sind. Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich die Lage in Europa ganz anders dar. Das Scheitern, das uns droht, liegt eher in zu kleinen Einheiten. In der längst an uns vorbei globalisierten Welt ist die EU die Mindestgröße, derer es Bedarf, um Entwicklungen maßgeblich im Sinne unserer Vorstellungen und Werte beeinflussen zu können. Bei unserer wirtschaftlichen Vernetztheit mit all ihren Abhängigkeiten braucht es die gemeinsame Steuerung der Rahmenbedingungen. Nur gemeinsam sind wir stark. Diese Erkenntnis ist so simpel, wie wahr.

 

Deshalb sollte man besser von gangbaren Alternativen sprechen. Das impliziert, dass das Projekt Europa im Kern grundrichtig ist, aber dass natürlich vieles anders und besser gestaltet werden könnte. Um das zu erreichen, müssen wir aber über Europa informieren, diskutieren und auch streiten.

 

Die „beredte Loyalität“ muss deshalb so aussehen: Diskutieren und miteinander streiten, um es besser zu machen. Es genügt nicht, dass viele Menschen Europa im Grundsatz befürworten. Wir müssen mit so viel Engagement über Europas Zukunft und das Europa der Zukunft diskutieren, wie wir uns mit deutscher Politik auseinandersetzen. So, wie wir zu Hause über deutsche Politik diskutieren – an Stammtischen, in Talkshows, aber auch in Zeitungen und in den Parlamenten. Wo haben die Bürger Zugang zu intensiven und engagierten europapolitischen Debatten? Wem die Rufe nach Renationalisierung unheimlich sind, muss zu Europa stehen und sagen können, warum.

 

Wir wissen längst, wo die Defizite Europas liegen. Das demokratische Defizit, das z.B. Autoren wie Hans Magnus Enzensberger und andere rügen – und das auch dem Bundesverfassungsgericht einige Sorgen bereitet hat – ist ja real. Auch das alleinige Initiativrecht der EU-Kommission, deren Vertreter sich keiner wirklichen Wahl stellen mussten, wirft zu Recht Fragen nach der demokratischen Legitimation von Rechtssetzungsakten auf – trotz aller Konsultationsprozesse. Deshalb sehen wir das gewachsene und wachsende Selbstbewusstsein des Europäischen Parlaments gern: Auch mit dem Haushaltsrecht hat es heute ein wichtiges Instrument an der Hand, noch vorhandene Defizite elegant auf dem Umweg des Finanzvorbehalts auszugleichen.

 

 

Interessen müssen in Europa

deutlicher benannt werden.

 

Der europapolitische Diskurs muss sichtbarer, aber auch ehrlicher geführt werden. Die Interessen müssen auf den Tisch – nur so kann offen über sie verhandelt werden. Das gilt für legitime nationale Interessen genauso wie für die gemeinsamen Interessen. Es reicht nicht, die abstrakte Bedeutung Europas für Frieden und Sicherheit und Wohlstand zu benennen: Die Menschen wollen wissen, was ihnen Europa bringt.

 

Wie auf der nationalen Ebene, so braucht es auch in der EU die Stimmen, die Partikularinteressen benennen, und die Stimmen, die das große Ganze im Blick haben, dessen Zusammenhalt ja auch allen nützt. Die Verwirklichung von Egoismen auf Kosten des Gemeinwohls bringt nur sehr kurzfristige Gewinne – die langfristigen Schäden betreffen alle. Beim Anhäufen von Staatsschulden wird uns das gerade sehr deutlich vor Augen geführt.

 

Als Kirchen haben wir es leichter als die Vertretungen der Mitgliedstaaten hier oder auch – umgekehrt – als die Deutschen in den Europäischen Institutionen. Wir schulden nur der Sache selbst Loyalität. Wir können uns unser eigenes Bild von dem machen, was im europäischen Interesse liegt, was „Gemeinwohl“ unserer Völkergemeinschaft und ihrer Bürger ist.

 

Aber auch dieses Bild ist natürlich mitgeprägt von dem, was unsere eigenen Vorstellungen, Werte und Interessen sind. Auch wir wollen Europa so mitgestalten, dass es am Ende „unser“ Europa ist, ein Europa mit dem – oder besser, mit dessen Politik – wir uns gut identifizieren können.

 

 

Europa braucht Beteiligung.

 

Und hier liegt ein weiterer Aspekt dessen, was die „beredte Loyalität“ verspricht. Damit die Europäische Union zu unserem Europa wird, müssen wir es unterstützen und mitgestalten – nicht nur über unsere Mitgliedstaaten oder über die Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern direkt als Bürger, als Verbände und auch als Kirchen.

 

Wir müssen miteinander, mit unseren Regierungen und mit den Institutionen in Brüssel, Luxemburg und Straßburg ins Gespräch kommen über Europa. Die Dialoge – der „zivile Dialog“ und der Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften –, die im Vertrag von Lissabon verankert wurden, sollen diesem Austausch dienen.

 

Unsere Rolle ist dabei eine doppelte – und mag auf den ersten Blick ein wenig widersprüchlich erscheinen. Denn treten wir im Grundsatz als Fürsprecher des europäischen Projekts auf, sind die Töne, die wir zu einzelnen Sachthemen anschlagen, durchaus auch kritisch.

 

In beidem sind wir aber überzeugte Europäer. Während beredte Loyalität einerseits fordert, den Kritikern gute Argumente für Europa entgegenzuhalten, kann sie andererseits auch die konstruktiv-kritische Begleitung konkreter politischer und legislativer Vorhaben bedeuten.

 

 

Der europapolitische Diskurs braucht mehr Redlichkeit.

 

Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass diese Aushandlung auf EU-Ebene lange kein offener Prozess war. Die Europäische Kommission sah sich als Motor der Integration und Hüterin der Verträge – was häufig mit dem Selbstverständnis korrelierte, ihre Entscheidungen seien quasi schon das europäische Interesse. Die Politikwissenschaften haben daher schon lange die Politisierung der Union gefordert, zu der der Vertrag von Lissabon auch wieder ein Stück beiträgt.

 

Das muss uns klar sein: Es mag nicht, wie auf nationaler Ebene, eine Partei „regieren“, aber deswegen ist die Kommission und sind ihre Entscheidungen nicht notwendig weniger politisch, auch parteipolitisch geprägt.

 

Deswegen bedarf es des Diskurses über die richtige europäische Politik. Deswegen haben Bürgerinnen und Bürger tatsächlich das Bedürfnis und das Recht, mitzugestalten und Entscheidungen zu beeinflussen. Dabei kann dann selbst die harsche Kritik an einem konkreten Projekt aus tiefer Loyalität zu Europa kommen, für das man eben einen anderen Weg für den besseren hält.

 

Hier fehlt der Europa-Debatte noch die Gelassenheit. Zu schnell wird die Opposition zu bestimmten Ausrichtungen europäischer Politik und bestimmter Ausgestaltungen des europäischen Gemeinwesens als Kritik an Europa empfunden. So, als ob die Opposition in einem Land jeweils unpatriotisch wäre, wenn sie die Regierungsmeinung nicht teilt.

 

In vollständig politisierten Systemen ist das immer leichter. Die EU kennt keine Regierung und keine Opposition. Hier ist es allein das Gleichgewicht der Institutionen, das einen Interessenausgleich sichern soll. Daher rührt oft diese Verwechslung einer bestimmten Politik und dem europäischen Interesse. Die Politik „Brüssels“ ist weniger klar einer politischen Richtung zuzuordnen.

 

Das hat Vor- und Nachteile. Der größte Nachteil ist der, dass Interessen dadurch kaschiert werden können. Durch Worthülsen wie „Integrationslogik“ oder „Europäische Solidarität“ werden Entscheidungen für unanfechtbar erklärt, die nur möglich, aber nicht zwingend sind.

 

 

Europa muss erklärt werden.

 

Gerade in der Euro-Krise ist das deutlich hervorgetreten. In der ganzen Debatte hat es an Redlichkeit gefehlt. Natürlich haben z.B. kleine mittel- und osteuropäische Staaten das Recht, einen Solidaritätsbegriff in Frage zu stellen, bei dem sie für das verantwortungslose Handeln von anderen eintreten sollen, deren Fehler sie selbst bei viel schlechteren Ausgangsbedingungen gerade vermieden hatten. Und dennoch ist es richtig, dass der Rettungsschirm steht – aber weniger als eine Frage der Solidarität als der wirtschaftlichen Vernunft.

 

Solidarität wäre eher an der Reihe, wenn unsere Mittelmeeranrainer aufgrund einer fehlerhaften Rechtsgrundlage mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Süden allein gelassen werden. Doch auch hier verkommt der Begriff der Solidarität zur leeren Worthülse, wenn letztlich auch die Aufstockung der Grenzschutzagentur FRONTEX als Akt der Solidarität politisch vermarktet werden kann.

 

Europa ist unpopulär, weil es undurchschaubar, schwierig und bürokratisch daher kommt. Aber so ist unsere Welt, die Zeit der einfachen Antworten ist vorbei. Haushaltsdefizite und Wirtschaftspolitik sind in Zeiten einer gemeinsamen Währung eben keine rein nationale Angelegenheit mehr und das muss den Menschen erklärt werden.

 

 

Beteiligung braucht Öffentlichkeit.

 

Wir wissen es schon lange: Es hapert an der Kommunikation in Europa. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass die Berichterstattung über Europa trotz guter Ansätze weitestgehend unterentwickelt ist. Es gelingt doch fast ausschließlich, mit der EU Schlagzeilen zu machen, wenn ihre Kritiker die „Bananenbürokratie“ (wieder Enzensberger) ins Visier nehmen. Only bad news are good news gilt auch und gerade für Europa.

 

Woran es völlig fehlt, ist die tägliche Berichterstattung über die politischen und rechtlichen Weichenstellungen. Richtlinien und Verordnungen fallen auch in Brüssel nicht vom Himmel – aber beim Bürger entsteht so der Eindruck, sie würden ihm einfach vorgesetzt.

 

Deshalb ist es wichtig – und da sehen wir unsere Rolle als Multiplikatoren –, über Europa zu sprechen, nicht nur allgemein, sondern ganz konkret. Dieser Newsletter soll dazu einen Beitrag leisten. Uns reicht es nicht, uns mit Konsultationsbeiträgen und politischen Gesprächen zu beteiligen, wir wollen, dass dieser Prozess der Partizipation ein öffentlicher ist, der über die Beteiligten hinaus geht.

 

Wenn die Bürgerinnen und Bürger erfahren, dass im Vorfeld eines Rechtsakts die verschiedenen Interessen – auch kirchliche, auch soziale und gemeinnützige – eingeflossen sind, rücken diese Entscheidungen schon viel näher an sie heran, rückt die EU damit viel näher an sie heran.

 

 

Wir brauchen mehr Europa,

aber es muss sich dafür verändern.

 

Europa hat eine Entwicklungsstufe erreicht, in der es allein als Elitenprojekt nicht mehr funktioniert. Der Vertrag von Lissabon reagiert darauf mit einer Stärkung des Europäischen Parlaments, mit mehr Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung und nicht zuletzt mit einer Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Auch die nationalen Parlamente haben dabei eine neue europäische Rolle und das Bundesverfassungsgericht hat in Deutschland dafür Sorge getragen, dass diese auch ernst genommen wird. Es bringt nichts, über „Brüsseler Entscheidungen“ zu klagen, wenn man die eigenen Mitwirkungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft hat.

 

Viele globale Herausforderungen lassen sich für die europäischen Staaten nur europäisch angehen. Insofern brauchen wir vielfach mehr Europa. Aber im Sinne des Subsidiaritätsprinzips kann eine Vertiefung auch bedeuten, dass in anderen Bereichen Abstriche gemacht werden. Nicht alles muss geregelt werden und schon gar nicht europäisch. Lokales Handeln, lokale Verantwortung müssen gestärkt werden, denn hier haben Menschen die effektivsten Mitgestaltungsmöglichkeiten.

 

Auch in Deutschland achten wir sehr genau auf die Kompetenzverteilung zwischen Ländern und Bund. Das auch auf europäischer Ebene zu tun, ist legitim.

 

Die Gestaltung eines so komplexen Gemeinwesens wie der Europäischen Union bedarf der Flexibilität und der Kreativität. Hier entsteht etwas, das eine große Chance – die große Chance – unseres Kontinents ist. Europa ist zu seinem Glück vereint: Nicht unter der Ägide eines Hegemons, sondern in freier Selbstbestimmung seiner Völker und Staaten.

 

Dieses Glück gilt es zu schmieden. Das bedarf der gemeinsamen Anstrengung. Dazu gehört auch, sich das kindliche Staunen über das vereinte Europa zu bewahren und immer wieder das Glück zu empfinden, Menschen in Europa zu begegnen, von unterschiedlichen Erfahrungen zu lernen, grenzenlos zu reisen, zu studieren, zu arbeiten.

 

 

Christen haben eine besondere Verantwortung für gelingende Integration.

 

Als Kirchen und als Christen sehen wir uns in einer besonderen Pflicht, denn unser Glaube und unsere Gemeinschaft kennen keine Grenzen. Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung sind unsere globalen Anliegen.

 

In Europa sehen wir ein wichtiges Instrument, um diese Ziele zu verwirklichen. Das Reich, auf das wir hinstreben, ist nicht von dieser Welt. Aber wir leben in dieser Welt und wollen sie zu ihrem Besten mitgestalten. Deshalb wird Europa für uns nicht zum Idol, für das wir uns begeistern, sondern wir sehen es nüchtern, aber mit seinen Chancen und Möglichkeiten, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Deshalb fordern wir vor allem ein stärkeres Miteinander ein – zwischen den Staaten und Völkern Europas, aber auch mit den Nachbarn nah und fern und mit der Schöpfung.

 

Als Kirche, als Christen sind wir Europas loyale Partner darin, diese Ziele für die verschiedenen Kontexte zu formulieren und umzusetzen. Dafür stehen die vielen kirchlichen und christlichen Organisationen in Brüssel, die über die Jahre ihr Engagement – konfessionell wie ökumenisch – vor Ort und in ihren Heimatkirchen verstärkt haben.

 

Wir Christen leben Europa schon auf vielerlei Weise, vom Gemeindeaustausch bis zur Kooperation in den ökumenischen Institutionen Europas und der Arbeit unserer Dienststelle in Brüssel. Darin liegt die Zukunft: Europa leben, damit Europa leben kann!

 

 

 

Die Rede des Ratsvorsitzenden in Brüssel „Beredte Loyalität – Evangelisches Engagement für Europa“

finden Sie unter: http://www.ekd.de/download/110526_rv_bruessel_beredte_loyalitaet.pdf



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