"Die andere Seite" - Gastbeiträge aus den Europäischen Institutionen

Wir müssen Europa als Freiheits- und Solidaritätsgemeinschaft stärken

Johannes Laitenberger, Chef de Cabinet
beim Präsidenten der Europäischen Kommission

Gerade in Krisenzeiten haben vorgeblich einfache Rezepte Konjunktur. Manch einer fragt, und manch einer suggeriert: Wenn es in der globalisierten Welt und in der Gemeinsamkeit der europäischen Staaten und Völker so kompliziert zugeht, wäre es nicht einfacher, nur sich selbst zu helfen? Wenn wir die Schwierigkeiten der Anderen nicht mittragen müssten, ginge es uns nicht besser?

Diese Gedanken sind kurzschlüssig. Sie verkennen, dass ein Ausstieg aus der Gemeinsamkeit kein Problem lösen, sondern die Probleme erst recht verschärfen würde. Beispiel Deutschland: Im Jahr 2009 gingen 63 % der deutschen Exporte in den europäischen Binnenmarkt. 40 % gingen allein in die Eurozone. 18 % gingen in die EU-Kohäsionsländer. Über 85 % des deutschen Leistungsbilanzüberschusses wurden innerhalb der EU realisiert. 65 % aller deutschen Importe kamen aus der EU. Deutschland exportierte mehr nach Frankreich, in die Niederlande, Italien, Österreich oder Belgien als nach China, und zwar in jedes einzelne Land! Es importierte mehr aus den Niederlanden als aus China, und mehr aus Frankreich als aus den USA. Die beeindruckende Steigerung der Wachstumsrate und die Senkungen der Arbeitslosenquote, auf die Deutschland zu Recht stolz sein kann, und die Europa insgesamt voranbringen, wären ohne den Euro und den EU-Binnenmarkt undenkbar.

Deshalb ist auch für die gute Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise entscheidend, der Versuchung zu widerstehen, uns auf uns selbst zurück zu ziehen. Die wirtschaftlichen Folgen wären verheerend. Ganz zu schweigen von den politischen Spannungen und protektionistischen Versuchungen, die eine solche Entwicklung unweigerlich auslösen würde. Präsident Barroso hat das Gebot der Stunde sehr plastisch formuliert: Entweder wir schwimmen gemeinsam, oder wir gehen einzeln unter.

Die Mitgliedstaaten der EU und die europäischen Institutionen gehen in die richtige Richtung. Vieles haben sie seit 2008 bereits erreicht: Das Finanzsystem wurde stabilisiert, der Europäische Finanzstabilisierungsfond geschaffen, Griechenland und Irland unterstützt, neue europäische Finanzaufsichtsbehörden eingerichtet und Reformen im Finanzsektor eingeleitet. Alle Staaten haben nachhaltige und schmerzhafte Konsolidierungsmaßnahmen ergriffen. Reformen werden angepackt, die vor wenigen Jahren oder Monaten noch unvorstellbar erschienen. Im September 2010 hat die Europäische Kommission die Vorschläge für die so genannte Economic Governance vorgelegt und darin auch den Stabilitätspakt gestärkt. Dies sollte im ersten Halbjahr 2011 vom EU Rat verabschiedet werden.

Durch den ersten Jahreswachstumsbericht der Kommission wurde ein neuer Zyklus wirtschaftspolitischer Steuerung in der EU eingeleitet. Zugleich läuft das erste Europäische Semester zur verstärkten Koordinierung der Wirtschaftspolitiken innerhalb der EU ein. Die Beschlüsse des Treffens der Staats- und Regierungschefs der Euroländer am 11. März 2011 geben eine gute Orientierung für eine umfassende Antwort auf die Krise. Die Arbeit geht in die richtige Richtung. Aber sie ist noch nicht zu Ende. Wir werden einen langen Atem brauchen.

Bei aller Sorge und Anstrengung sollten wir jedoch nicht übersehen, dass Krisen immer auch Chancen bieten: Wir haben die Möglichkeit, die Grundlagen unseres Zusammenlebens, unserer Wirtschafts- und Sozialordnung in Europa neu zu bedenken, neu anzulegen und zu stärken.
 
Es geht heute mehr denn je darum, Europa als Freiheits- und Solidargemeinschaft zu stärken. Daher sind die Bemühungen dieser Tage um die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion nichts weniger als Bemühungen um die Europäische Union, um ihr Wesen, um ihre Zukunft, um ihre Seele. Wenn wir diese Chance wirklich und richtig ergreifen, können wir Europa stärker und lebendiger machen als je zuvor.


Johannes Laitenberger wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Rechtswissenschaften in Portugal und Deutschland. Seit 1996 arbeitet er für die Europäische Union, seit 2004 war er im Kabinett des Präsidenten der Europäischen Kommission. 2005-2009 wurde er Pressesprecher der Europäischen Kommission, bevor die Ernennung zum Kabinettschef erfolgte. Der Sohn eines evangelischen Pfarrers war einige Jahre Presbyter in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Brüssel und engagiert sich dort als ehrenamtlicher Organist, wenn seine beruflichen Pflichten es zulassen.



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