Hintergrund: Die EU-Atompolitik nach Fukushima

(Sebastian Franke / Patrick Roger Schnabel)

In der Folge des Super-GAU von Fukishima am 11. März 2011 ist weltweit eine neue Debatte über die Sicherheit der Atomkraftwerke entbrannt. In der Kommission ist man zwar weiterhin von der Zukunft und Notwendigkeit der Kernkraft überzeugt, doch führte das Unglück von Japan zu der Einsicht, dass die Sicherheitsstandards von Atomkraftwerken möglicherweise für einen Krisenfall unzureichend sein könnten. Bereits am 15. März 2011 präsentierte Energiekommissar Günther Oettinger einen Plan, nach dem die europäischen Kraftwerke innerhalb eines Jahres auf freiwilliger Basis sogenannten Stresstests unterzogen werden sollen, in denen beispielsweise die Auswirkungen eines Bebens oder der Ausfall von Kontrollgeräten und Kühlungssystemen, aber auch die Folgen eines terroristischen Angriffes simuliert werden.

Die Kompetenzen der EU im Bereich der Energiepolitik sind begrenzt. Sie leiten sich insbesondere aus Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ab, wonach die Union als „Hüterin des Binnenmarkts und der Verträge“ vor allem über das Funktionieren des Energiemarktes, die Energieversorgungssicherheit sowie die Förderung der Energieeffizienz wacht. Die Mitgliedsstaaten entscheiden jedoch selbst über ihren Energiemix. Derzeit setzen 14 der 27 Mitgliedsstaaten auf Kernenergie. Insgesamt gibt es 143 Reaktoren in der EU, die knapp 28 % des europäischen Stromes erzeugen. 17 Reaktoren stehen in der Bundesrepublik Deutschland.

Einschränkungen findet die „Energiehoheit“ der Mitgliedsstaaten beispielsweise durch die Kompetenz der Union im Bereich Umwelt, für die ein „hohes Schutzniveau“ gilt (Art. 191 AEUV), oder im Bereich der Wettbewerbspolitik, insbesondere über die Prinzipien zur Verwirklichung des Binnenmarktes (Art. 26ff. AEUV). Beide Bereiche sind jedoch subsidiär zu betrachten. Eine wirkliche Ausnahme von den eher rudimentären Kompetenzen der Union in der Energiepolitik bildet aber die Kernenergie, insbesondere der EURATOM-Vertrag zur Gründung einer Europäischen Atomgemeinschaft (EAGV). Das Vertragswerk von 1957 weist der in die Kommission eingegliederten EURATOM zunächst die Aufgabe zu, „durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Atomindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen“ (vgl. Art. 1 EAGV). Expliziter wird Artikel 2, wonach EURATOM Aufgaben auf folgenden Gebieten zukommen:

1. Entwicklung, Förderung und Forschung im Bereich der Kernenergie
2. Reaktorsicherheit; Überwachung der Sicherheit von Arbeitnehmern und Bevölkerung vor ionisierenden Strahlen
3. Kontrolle der nuklearen Brennstoffkreisläufe
4. Gewährleistung der Absatzmärkte, Versorgung der Gemeinschaft mit Erzen und Kernbrennstoffen sowie Informationsaustausch mit Unionsmitgliedern und Drittstaaten über alle für den Fortschritt und die Sicherheit der Kerntechnologie relevanten Daten und Ereignisse

EURATOM besitzt Rechtspersönlichkeit und ist damit im Prinzip eine eigenständige Behörde. Abschließende Bestimmungen des EAGV – sie bilden die Mehrheit – haben Vorrang vor Bestimmungen anderer europäischer Verträge. Für nicht abschließende Bestimmungen gilt das Prinzip der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nach Art. 5 AEUV, wonach die Union dann tätig werden kann, wenn es noch keine entsprechende Maßnahme auf europäischer Ebene gibt und diese die gemeinsamen Ziele besser verwirklichen würde sowie nicht unverhältnismäßig in die Souveränität der Mitgliedsstaaten eingreift. Zudem findet der Gesetzgebungsprozess im Bereich der EURATOM lediglich zwischen Kommission und Rat ohne Mitentscheidung des Europäischen Parlamentes statt, das lediglich an der Festsetzung des Budgets beteiligt ist. Die nationalen Parlamente besitzen über ein dem EAGV beigefügtes Protokoll ebenfalls ein Informations- und Konsultationsrecht. Gleichwohl sind die Kompetenzen der EU und der Kommission begrenzt: So kann sie beispielsweise aufgrund der herrschenden Vertragslage keine einheitlichen Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke vorschreiben. Die Richtline 71/2009 EG zur „Sicherheit kerntechnischer Anlagen“ fordert lediglich ein „hohes Niveau“ ohne konkrete Vorgaben zu machen.

Einen der Kernpunkte der Strategie „Europa 2020“ stellt die Reduzierung der CO2- und Treibhausemissionen sowie eine langfristig gesicherte Energieversorgung Europas dar (die Union ist hier zu über 60 % von Importen abhängig; zudem wird die Energienachfrage bis 2030 wohl um 60 % steigen). Neben dem Ausbau der regenerativen Energien setzt die Europäische Union dabei weiterhin auf die Kernkraft.

So sieht die aktuelle EU-Energiepolitik keinen Abbau der Förderungen oder gar institutionelle Veränderungen für EURATOM vor. Im Gegenteil lassen die bewilligten Gelder für den Bau neuer Kraftwerke in Finnland, Bulgarien, Rumänien und der Ukraine darauf schließen, dass sich die Kommission eher für einen Ausbau der europäischen Kapazitäten einsetzen wird. In einem 2007 veröffentlichten Strategiepapier zur Energiepolitik spricht sich die Union ebenso für deutliche Investitionen in die Kernkraft unter den Aspekten Umweltschutz, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit aus wie in einem bereits 2006 erschienenen Grünbuch über nachhaltige Energie. Die wesentlichen Leitlinien wurden auch noch einmal in den Schlussfolgerungen des Rates vom März 2007 festgehalten. Ebenfalls 2007 wurde Rat und Parlament ein Strategiepapier für ein neues Nuklearprogramm vorgestellt, in dem die Kommission die Bedeutung der Kernkraft für „Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit“ noch einmal herausstellt. Gleichzeitig betont sie, dass die Öffentlichkeit besser informiert und die Probleme des Strahlenschutzes und der Endlagerung deutlicher angesprochen werden müssen. Zudem sei die Diversifizierung eines funktionierenden Energiemarktes ebenso eine zentrale Voraussetzung beim Erreichen der strategischen Ziele, wie die Modernisierung und Homogenisierung der Stromnetze.

Diese Atom-Freundlichkeit der EU-Kommission schlägt sich nach Auffassung der Kritiker auch in den „Stresstests“ (s. voranstehender Artikel) nieder. Diese seien weder verbindlich noch ausreichend genug. Insbesondere herrscht bezüglich Effektivität und Nutzen der Stresstests Uneinigkeit im Europäischen Parlament, so dass eine entsprechende Resolution nicht angenommen werden konnte. Inzwischen hat sich auch Kommissionspräsident Barroso für stärkere Kontrollen im Rahmen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der G20 ausgesprochen. Von Seiten der Mitgliedsstaaten sprechen sich vor allem diejenigen für erhöhte und verbindliche Sicherheitsstandards aus, die keine AKW betreiben oder keinen Ausbau ihrer Kapazitäten planen. Betreiberstaaten wie Frankreich befürworten hingegen die freiwilligen Stresstests, wohl in erster Linie aus dem Kalkül eines gesteigerten Legitimationsbedürfnisses als aus der Erkenntnis, dass diese tatsächlich notwendig seien.

Dementsprechend begrenzt sind auch die Hoffnungen auf einen baldigen Kurswechsel in der Kernenergie: Zu gering sind die Möglichkeiten einer direkten Einflussnahme durch verbindliche Maßnahmen auf europäischer Ebene, zu starkes Gehör finden die Befürworter des Status Quo und zu gering sind die Ambitionen, überhaupt etwas grundlegend verändern zu wollen. Die Forderung der Kommission nach Stresstests, wie sie durch Günther Oettinger vorgetragen wird, bleibt somit letzten Endes nur eine Aufforderung an die Betreiberstaaten und wird wohl keine grundlegende Wende einläuten.



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