Europäischer Grenz- und Küstenschutz – Die Flucht nach vorn?

(Sebastian Schwab, Praktikant, und Julia Maria Eichler)

Am 15. Dezember 2015 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für einen Europäischen Grenz- und Küstenschutz vorgestellt. Frontex (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU) soll hierfür zu einer Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenschutz mit neuen, weitergehenden Kompetenzen ausgebaut werden. Gemeinsam mit den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, die weiterhin das laufende Management der Außengrenzen durchführen sollen, solle zusammen der Europäische Grenz- und Küstenschutz gebildet werden. Auch die nationalen Küstenwachen sollen Teil des Europäischen Grenz- und Küstenschutzes werden, soweit sie grenzpolizeiliche Aufgaben wahrnehmen.

Die Kommission geht damit einen klaren Schritt Richtung weiterer Integration. Frontex, als beratende, unterstützende und koordinierende Agentur gestartet, wird nach dem Kommissionsvorschlag zum Kontroll- und Steuerungsorgan des Europäische Grenz- und Küstenschutzes. Noch vor wenigen Monaten wäre ein solcher Vorschlag undenkbar gewesen. Doch die Querelen der letzten Monate um das Management der griechischen Außengrenzen scheinen den Vorschlag befördert zu haben.

Die Defizite in den Frontex zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wurden in den letzten Monaten immer offensichtlicher. So hing in der Vergangenheit die Schlagkraft von Frontex entscheidend von dem Willen der Mitgliedstaaten ab, der Agentur eigene Fachkräfte auf freiwilliger Basis für Operationen zur Verfügung zu stellen – dies mit unterschiedlichem Erfolg. So hatte Frontex im Oktober 2015 775 zusätzliche Beamte von den Mitgliedstaaten für den Einsatz in Griechenland und Italien angefordert und lediglich 447 erhalten. Damit es in Zukunft keinen Mangel an Personal mehr gibt, soll die  neue europäische Grenz- und Küstenschutzagentur über eine innerhalb von drei Tagen mobiliserbare Reserve von mindestens 1.500 Experten und technischer Ausrüstung verfügen. Der Beitrag der Mitgliedstaaten zum Personenpool soll verpflichtend werden. Die neue Agentur soll selbst Ausrüstung anschaffen und auf eine von den Mitgliedstaaten bereitgestellte Reserve von technischer Ausrüstung zurückgreifen dürfen. Die Anzahl ständiger Mitarbeiter soll bis 2020 auf 1.000 erhöht werden.

Zusätzlich soll eine Zentralstelle für Überwachung und Risikoanalyse eingerichtet werden, um Migrationsströme zu überwachen und Risikoanalysen sowie verbindliche Schwachstellenbewertung durchzuführen. Auf Grundlage der Analyse der zukünftigen Gefahren für die Sicherheit und Stabilität der europäischen Außengrenzen, die die technische Ausstattung, Kapazitäten und die personellen Ressourcen des jeweiligen Mitgliedstaates einbezieht, wird geprüft, wie gut die Mitgliedstaaten für zukünftige Herausforderungen gerüstet sind. Frontex-Verbindungsbeamte sollen die Präsenz in den Mitgliedstaaten gewährleisten. So sollen EU-weite Standards beim Grenzmanagement an allen Außengrenzen sichergestellt werden.

Empfehlungen und Risikoanalysen der Grenzschutzsituationen gibt Frontex seit seinem Bestehen ab, jedoch wurden diese in der Vergangenheit nur zögernd von den Mitgliedstaaten umgesetzt. Neu ist zudem, dass der Exekutivdirektor von Frontex eine für die Mitgliedstaaten bindende Entscheidung über die zum Schutz der Grenzen notwendigen Maßnahmen erlassen kann, die innerhalb einer bestimmten Frist umzusetzen sind. Doch der Vorschlag geht noch einen Schritt weiter. Kommt der Mitgliedstaat der Aufforderung nicht nach, kann die EU-Kommission, im Fall der Ineffektivität des Grenzschutzes (z. B. der Grenzkontrollen) des säumigen Mitgliedstaates und der dadurch bedingten Gefährdung des Funktionierens des Schengen-Raumes als „Ultima Ratio“ Sofortmaßnahmen beschlie- ßen. Auch ohne Versäumnisse des Mitgliedstaates soll die Kommission künftig ohne vorangegangenes Verfahren bei der Agentur eine solche Entscheidung erlassen können, wenn plötzlich ein übermäßiger Zustrom von Drittstaatlern die Außengrenze unter Druck setzen würde, sodass wiederum die Funktionsfähigkeit des Schengen-Raumes gefährdet wäre.

Die von der Kommission angeordneten Maßnah- men könnten unter anderem den Auftrag an die Agentur umfassen, mit der unverzüglichen Aufstellung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke und Grenzschutzeinheiten sowie mit der Koordinierung der Einsätze der Soforteinsatzteams zu beginnen. Zudem könnte die Agentur von der Kommission beauftragt werden, die Befehlsgewalt über die Aktivitäten an der Außengrenze eines oder mehrerer Mitgliedstaaten sowie über gemeinsame Grenzsicherungsaktivitäten des betreffenden Mitgliedstaates mit angrenzenden Drittstaaten zu übernehmen, sofern der Drittstaat zustimmt. Der Entzug der Befehlsgewalt über Sicherung der nationalen Grenzen ist der umstrittenste und weitreichendste Vorschlag der Kommission. Auch wenn die Kommission letztlich die Entscheidung treffen soll, erhielte Frontex, und damit der Exekutivdirektor, das Recht tätig zu werden und zwar auch ohne Zustimmung des entsprechenden Mitgliedstaats.

Darüber hinaus wird eine europäische Rückführungsstelle errichtet, die eigene Rückführungsoperationen irregulär aufhältiger Drittstaatsangehöriger organisieren und durchführen soll. Bisher kann Frontex hier nur unterstützend tätig werden. Die Rückkehrentscheidung selbst wird dabei weiterhin ausschließlich von dem Mitgliedstaat getroffen.

Interessant ist dieser Vorschlag vor allem im Hinblick auf die Türkei. Das neue Mandat erfasst auch die Entsendung von Verbindungsbeamten in Drittstaaten, unter anderem zur Organisation gemeinsamer Einsätze, die auch Rückführungen umfassen sollen. So ist vorgesehen, dass die Agentur zusammen mit Drittstaaten auf deren Anfrage hin auch Rückführungsoperationen aus dem Gebiet der Drittstaaten in andere Drittstaaten vornehmen können soll, unter der Voraussetzung, dass der die Rückkehrentscheidung ausstellende Drittstaat an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gebunden ist. Mit diesem Vorschlag möchte die EU- Kommission wohl der Türkei entgegen kommen, vor allem im Hinblick darauf, dass ab Juni 2016 die Türkei im Rahmen des Rückführungsabkommen mit der EU nicht nur eigene Staatsangehörige zurücknehmen soll, sondern auch die von Drittstaaten. Die Türkei hat zwar die EMRK unterschrieben, jedoch bemängelte die EU-Kommission im jüngsten Fortschrittsbericht, dass sie stellenweise nicht beachtet werde.

Völlig neu ist der in dem Vorschlag vorgesehene Beschwerdemechanismus im Fall von Menschenrechtsverletzungen. Demnach kann sich jeder, der sich bei einer Aktion mit Beteiligung von Frontex in seinen Grundrechten verletzt fühlt, aber auch dritte Parteien, die einen direkt Betroffenen vertreten, schriftlich bei Frontex über den Mitarbeiter, der entweder bei der Agentur direkt beschäftigt ist oder aber von einem Mitgliedstaat entsandt wurde, beschweren.

Der Zeitplan für die Verabschiedung des Vorschlags ist ambitioniert. Der Europäische Rat hat in seinen Schlussfolgerungen vom 18. Dezember 2015 beschlossen, dass der Rat noch unter der niederländischen Ratspräsidentschaft, also bis Ende Juni 2016, zu einer gemeinsamen Position finden soll. Die Diskussionen im Rat dürften schwierig werden, tun sich die Mitgliedstaaten doch traditionell schwer mit der Abgabe von Kompetenzen, zumal, wenn sie so nah mit der nationalen Sicherheit verbunden sind.

Im Parlament waren die Reaktionen auf den Vorschlag gespalten. Die Sozialdemokraten und die Grünen begrüßten zwar eine gemeinsame Verantwortlichkeit für die europäischen Außengrenzen, mahnten aber einen lückenlosen Grundrechtsschutz an. Während die linke Fraktion GUE/NGL den Kommissionsvorschlag ablehnte, weil dieser Europa noch mehr zur „Festung“ ausbaue, begrüßte die konservative Europäische Volkspartei den Vorschlag nahezu einhellig, stärke doch die gemeinsame Verantwortung und die Möglichkeit der EU, die Grenzsicherung nötigenfalls selbst zu übernehmen, die Sicherheit und den Bestand des Schengen-Raumes. Vor diesem Hintergrund ging der liberalen ALDE-Fraktion der Vorstoß nicht weit genug, nötig sei eine exklusive Kompetenz der EU für die Grenzsicherung.

Ob vor allem das Recht tätig zu werden von den Europäischen Verträgen abgedeckt ist, ist umstritten. Die Kommission argumentiert, dass die rechtliche Grundlage für die Möglichkeit, den einzelnen Mitgliedstaat im Bedarfsfall die Gewalt über seine eigene Grenze zu entziehen, im Zusammenschluss aller Grenzschutzbehörden der Mitgliedstaaten mit der Agentur zu einer Europäischen Grenz- und Küstenschutzwache liege. Daraus leitet die Kommission eine gemeinsame Verantwortlichkeit für die europäischen Außengrenzen ab und verpflichtet die Mitgliedstaaten zu einem vertrauensvollen Zusammenwirken. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht in Art. 77 Abs. 2 lit. d eine schrittweise Einführung eines integrierten Grenzschutzsystems vor; ob damit jedoch auch ein supranationaler Grenzschutz gemeint ist, bleibt offen.

Auch wenn eine Europäisierung des Grenzschutzes grundsätzlich zu begrüßen ist, ist doch die im Vorschlag enthaltene enorme Kompetenzausweitung für die neue Grenz- und Küstenschutzagentur ohne eine entsprechende grundrechtliche Absicherung und Rechenschaftspflichten mehr als problematisch. Mit dem neuen in der Verordnung niedergelegten „Recht, tätig zu werden“ verschwimmen die Verantwortlichkeiten zwischen Beamten von Frontex und der Mitgliedstaaten immer mehr. Wer in der Praxis welche Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht hat, bleibt häufig unklar. Vor allem die Kompetenzen, die sich in der Person des Exekutivdirektors vereinen, müssten mit einer demokratisch abgesicherten Rechenschaftspflicht verbunden werden. Zwar besteht die Option, eine Operation bei schweren und anhaltenden Men-schenrechtsverletzungen abzubrechen, in der Praxis ist dieser Fall jedoch noch nicht eingetreten. Die Möglichkeit der Stärkung des Grundrechtschutzes, indem konkrete Kriterien, wann ein Abbruch notwendig ist, bestimmt werden, hat die Kommission nicht genutzt. Der Schutz von Grundrechten scheint beim Grenzschutz weiterhin zweitrangig zu bleiben.

Den Vorschlag der Europäischen Kommission finden Sie auf Englisch unter:
http://ekd.be/Vorschlag_EU_Kommission_Kuestenschutz



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