Bestätigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts durch Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

(Christopher Hörster)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) hat in drei am 20. Dezember 2011 veröffentlichten Entscheidungen ("Baudler", "Reuter" und "Müller") klargestellt, dass Kirchen Beschäftigungsverhältnisse grundsätzlich ohne staatliche Eingriffe regeln dürfen. Das Recht auf ein faires Verfahren, wie es Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert, sei durch die beschränkte Überprüfung der kirchlichen Entscheidungen durch die staatlichen Gerichte nicht verletzt.

Die Beschwerdeführer Baudler und Reuter waren als Pfarrer ihrer jeweiligen Landeskirchen wegen Unstimmigkeiten mit den Gemeinden 1994 unabhängig voneinander in den Wartestand versetzt worden. 1998 wurde Herr Reuter in den Ruhestand, 1999 Herr Baudler in den Schuldienst versetzt. Gegen diese Entscheidungen gingen beide zunächst vor den kirchlichen Gerichten, im Anschluss daran vor den Verwaltungsgerichten vor, unterlagen aber in allen Instanzen. Die im Anschluss beim Bundesverfassungsgericht eingelegten Beschwerden wurden als unzulässig abgewiesen. Nach geltendem Recht, so die Bundesverfassungsrichter im Fall Baudler, könne zwar eine begrenzte Kontrolle kirchlicher Entscheidungen durch staatliche Gerichte erfolgen. Eine solche Kontrolle sei aber aufgrund des verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts der Kirchen auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsordnung, wie zum Beispiel des Willkürverbots, beschränkt. Ein Verstoß gegen eben diese Grundsätze sei vorliegend nicht ersichtlich. Beide legten daraufhin Ende 2004 Beschwerde beim EGMR in Straßburg ein.

Das Ehepaar Müller trat 1975 in den Offiziersdienst der Heilsarmee ein. 2001 wurden beiden wegen mehrfach vorgeworfener Verfehlungen "indisponibel" gestellt und ihr Offiziersdienst anschließend für beendet erklärt. Ihre Klagen vor den Zivilgerichten wurden als unbegründet abgewiesen. Zwar führte der Bundesgerichtshof auch im Fall Müller aus, dass eine eingeschränkte Kontrollmöglichkeit staatlicher Gerichte bezüglich kirchlicher Entscheidungen bestehe. Jedoch beständen für eine Verletzung elementarer Rechtsgrundsätze im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte. Eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht wurde ebenfalls abgelehnt, woraufhin das Ehepaar Müller im April 2004 Beschwerde beim EGMR einlegte.

In den Verfahren vor dem EGMR rügten die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren, wie es Art. 6 der EMRK garantiert. Das Verfahrensgrundrecht sei insbesondere dadurch verletzt, dass einerseits die kirchlichen Gerichte keine unabhängige Gerichtsbarkeit darstellten, andererseits die staatlichen Gerichte aufgrund ihrer extrem eingeschränkten Prüfung kirchlicher Entscheidungen keinen adäquaten Rechtsschutz böten.

Der EGMR folgte dieser Argumentation im Ergebnis nicht. In den Fällen Baudler und Reuter erachtete der EGMR das Verfahrensgrundrecht des Art. 6 der EMRK bereits als nicht anwendbar. Für das Recht auf ein staatliches Gerichtsverfahren sei Voraussetzung, dass ein Recht der staatlichen Rechtsordnung geltend gemacht werde. In den vorliegenden Fällen sei aber gerade kein Verstoß gegen die Rechtsgrundsätze dargelegt worden, die staatlichen Gerichte im Rahmen der Kontrolle von kirchlichen Entscheidungen prüften. Somit sei auch die Garantie des Art. 6 EMRK nicht einschlägig.

Im Fall Müller erklärte der EGMR das Recht des Art. 6 zwar grundsätzlich für anwendbar, verneinte aber eine Verletzung durch die Entscheidung der Heilsarmee. Das Ehepaar Müller habe eine Verletzung der durch staatliche Gerichte überprüfbaren Grundsätze vorgetragen und sei insoweit auch, wenn auch ohne Erfolg, von den nationalstaatlichen Gerichten gehört worden. Es werde ein Recht der staatlichen Rechtsordnung geltend gemacht, Art. 6 EMRK sei somit anwendbar. Allerdings, so führten die Richter aus, gelte die Verfahrensgarantie des Art. 6 EMRK nicht unbegrenzt, sondern könne für legitime Zwecke und auf verhältnismäßige Art und Weise beschränkt werden. Die Begrenzung der staatlichen Überprüfbarkeit kirchlicher Entscheidungen in Deutschland, welche ihre Legitimation in der deutschen Verfassung finde, sei vor diesem Hintergrund nicht zu bemängeln und befinde sich im Einklang mit der EMRK.

Mit diesen neuen Entscheidungen hat der Gerichtshof in Straßburg die nationale Ausgestaltung des Staat-Kirchen-Verhältnisses gebührend respektiert. Das deutsche Verständnis, wonach jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes verwaltet und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht so mit dem staatlichen Schutzauftrag in Einklang bringt, ist als mit der EMRK konform bestätigt worden.

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