Mehr als Strom: Die Energiepolitik der Europäischen Union ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima

(Christoph Schnabel)

Verfolgt man die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs zur gegenwärtigen Währungs- und Staatsschuldenkrise, ist man Zeuge von extremen Fliehkräften, die drohen, die europäische Gemeinschaft auseinander zu ziehen. Wendet man jedoch seinen Blick auf die Frage nach der zukünftigen Energieversorgung, kann man einen europäischen Integrationsprozess mitverfolgen, der grenzüberschreitende Netze schafft, klima- und wirtschaftspolitische Interessen angleicht und sowohl dem Einzelnen als auch dem Gemeinwohl dient.

Die sich nun jährende Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 wurde in Brüssel mit Entsetzen wahrgenommen. Energiekommissar Günther Oettinger sprach von einer "Apokalypse", die sich in Japan ereignet habe (DIE ZEIT 14. März 2011). Die realpolitischen Konsequenzen aus dieser Katastrophe wurden in den verschiedenen europäischen Ländern jeweils unterschiedlich gezogen. In Deutschland kam es zu einer Beschleunigung der Atomausstiegspolitik und einer grundlegnden "Energiewende", dem gegenüber standen verhaltene oder keine Reformen in anderen Staaten. Dass eine Energiewende eingeleitet werden musste und diese nur gesamteuropäisch realisiert werden kann, wurde bereits beim EU-Energiesondergipfel im Februar 2011 deutlich. Zuvor im November 2010 präsentierte die Europäische Kommission mit dem Strategiepapier "Energie 2020" eine Konzeption für die zukünftige Ausrichtung der Energiepolitik. Die anvisierten Verbindungen zwischen den Staaten und grenzüberschreitenden Netzwerken in Form eines "integrierten europäischen Energienetzes" beschreiben dabei einen sichtbaren Integrationsprozess.

Nunmehr ein Jahr nach der Katastrophe in Fukushima sind wichtige Weichen gestellt. Mit der Energie-2020-Strategie und der "Energy Roadmap 2050" sind Eckpfeiler für eine europäische Energiepolitik vorhanden. Die Ziele einer Senkung der Treibhausgasemissionen um 20 Prozent, einer Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien auf 20 Prozent und einer Verbesserung der Energieeffizienz um 20 Prozent für das Jahr 2020 sind beim aktuellen Stand der Umsetzung kritisch zu bewerten. Dass ein Energiefahrplan für die nächsten 38 Jahre aufgestellt wird, wenn schon die Ziele der nächsten acht Jahre schwierig zu erreichen sind, mag bei der ersten Betrachtung verwundern. Doch muss man sich die grundlegenden Bedeutung und Langfristigkeit der angestrebten Energiewende vor Augen halten.

Die im Dezember 2011 vorgestellte "Energy Roadmap 2050" basiert auf ökonomischer Modellierung und prognostiziert Bedarf und Angebot von Energie. Dabei wird auch der Bedarf von einzelnen Personenhaushalten erwogen. 15 Prozent der durchschnittlichen Haushaltsausgaben werden 2050 benötigt, um den Energiebedarf zu decken. Personen, die in Armut oder an der Armutsgrenze leben, sind besonders von den Preisschwankungen von Energiepreisen betroffen. Als "Energiearmut" bezeichnet dies Energiekommissar Günther Oettinger (Brüssel, 02. Februar 2012). "Das wird in den nächsten Jahren dazu führen, dass sich nicht mehr jeder aus seinem schmalen Budget Wärme im Winter, Kälte im Sommer, Mobilität, Sicherheit, Lebensqualität leisten kann." Die Erkenntnis, dass bei dieser Energiewende auch Menschen am Rande der Gesellschaft beteiligt werden müssen und Energieversorgung und Verteilung auch eine Dimension der Gerechtigkeit in sich tragen, wird bei mathematischen Analysen und wissenschaftlichen Ausarbeitungen bislang oftmals gering oder gar nicht gewichtet.

 Zur Verdeutlichung zwei Aspekte: Kredite für eine energetische Wohnungs- oder Haussanierung sind für Personen mit geringem Einkommen nur schwierig zu erhalten. Mietpreise steigen, da Wohnungsgesellschaften die Investitionen in Sanierungen an die Mieter weitergeben und so den Wohnungswechsel in unsanierte Wohnungen erzwingen. Somit werden Einzelne immer weiter von den Gewinnen der Energiewende ausgeschlossen und abgehängt.

Auch die Notwendigkeit, Energiepolitik nicht nur als Klima-, sondern auch als Sozial- und Außenpolitik zu behandeln, wird nunmehr europaweit verstärkt deutlich. Wendet man seinen Blick zum Ursprung der jeweiligen Energiequellen, wird die gegenseitige Abhängigkeit von europäischen Regionen ersichtlich. Industriezentren und Ballungsräume benötigen Strom von weitentlegenen Windparks und sonnenreichen Solarregionen. Dass diese Verbindung über die Europäische Union hinausgeht, lässt sich nicht nur bei dem Projekt Desertec (Strom aus der Wüste), sondern auch bei der Gasversorgung nachvollziehen. Leitungen im "südlichen Korridor", also die Verbindung Europas mit dem kaspischen Raum und dem Nahen Osten, haben spätestens mit den Gaskrisen 2006 und 2009 an Gewicht gewonnen. Die Wirtschaftskraft und Produktionsleistung steht im engen Zusammenhang mit einer funktionierenden europäischen Kooperation und dem Verhältnis der Union zu seinen Nachbarstaaten.

Energiepolitik ist folglich auch Sicherheitspolitik. Dieser Politikbereich bleibt also den Mitgliedstaaten vorbehalten. Gleichzeitig erschwert dies eine Koordinierung und eine einheitliche europäische Außenenergiepolitik. Doch sind mit der Anbahnung von neuen Lieferverträgen mit Aserbaidschan (Januar 2011) und dem Irak (Mai 2011) kleine Teilerfolge zu verzeichnen und die koordinierende Leistung der Union positiv zu bewerten. Auch die transnationale Koordinierung hat an Dynamik gewonnen mit dem "Projektunterstützungsabkommen" von Bulgarien, Österreich, Rumänien, Ungarn und der Türkei für die Gas-Pipeline „Nabucco“, die an der Grenze zu Aserbaidschan beginnt und sich bis nach Österreich erstrecken soll.

Geleitet wird diese europäische Politik von dem Anspruch, "sichere, zuverlässige verfügbare, nachhaltige und erschwingliche Energie" in der Europäischen Union zu haben (Europäischer Rat 04.02.2011). Dass diese vier Leitpunkte zuweilen Zielkonflikte in sich tragen, wird auch gegenwärtig von einzelnen Interessensgruppen und Ländern genutzt, um Reformen zu verhindern. Bei den Themen der Energieeffizienz und Energieeinsparung sind die größten Defizite in der Umsetzung zu verzeichnen. Waren ursprünglich rechtsverbindliche Vorgaben für die Mitgliedstaaten und eine Aufwertung der Energieeffizienz angesteuert, musste die Kommission auf Druck der Mitgliedstaaten wieder zurück rudern. Gerade bei der Energieeffizienz traten und treten die üblichen Konfliktmuster nationaler Eigeninteressen und Probleme einer kollektiven Umsetzung hervor. Dies schmälert jedoch keineswegs die Notwendigkeit einer Koordinierung durch gesamteuropäische Zielsetzungen.

Hierfür wurde ein "Energieministerium" (Frankfurter Rundschau 27. Januar 2012) für Deutschland gefordert. Jedoch wird dieser Vorschlag nicht der Tragweite der zukünftigen Aufgaben gerecht. "Bleibt es bei einem weitgehenden unkoordinierten Nebeneinander von 27 nationalen Energiestrategien, wird die EU nicht in der Lage sein, bis zum Jahr 2050 die gewünschten Emissionsreduktionen zu erzielen", schätzt die Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Notwendigkeit einer engeren Kooperation zur Erreichung der Ziele bedingt dabei eine weitere Europäisierung der Energiepolitik.

Blickt man nochmals ein Vierteljahrhundert zurück, hat man die Zeitungsnachrichten des Reaktorunfalls in Tschernobyl vor Augen. "Durch den Reaktorunfall in Tschernobyl im April 1986 ist die etwa eineinhalb Jahrzehnte währende Auseinandersetzung über Energiefragen zu einem Höhepunkt gekommen", resümierte damals die EKD in einem Diskussionsbeitrag zum Thema umweltgerechte Politik (EKD-Texte 31, Hannover 1990). Dass wir erneut an einem "Höhepunkt" in energiepolitischen Fragen angekommen sind, ist ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima ein Zeichen dafür, dass ein langfristiger Politikwandel bevorsteht, der über die Kompetenzen von einzelnen Staaten hinausgeht und von einer europäischen Gesamtleistung abhängig ist.

Die "Energie-2020-Strategie" und die "Energy Roadmap 2050" finden Sie hier:



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